Betrogene, Träumer, Erfolgreiche, Verlierer, … – Der ausgezeichnete Fotograf Wolfgang Müller hat Wanderarbeiter in China begleitet. Erstaunliche Bilder sind ihm dabei gelungen:
Sie bilden ein Heer von gewaltigen Ausmaßen. Auf etwa 200 Millionen wird die Zahl der »Mingong« geschätzt, der chinesischen Wanderarbeiter. Tendenz steigend. Das ist knapp ein Sechstel der Bevölkerung Chinas. Dabei sind sie einerseits Stachel in der kommunistischen Vision von einer besseren Welt und bilden mit ihren unerfüllten Ansprüchen ans Leben einen latenten Konfliktherd. Gleichzeitig sind sie mit ihrer Mobilität und ihren Billiglöhnen das Rückrat des Wirtschaftsbooms in der Volksrepublik China.
Jetzt hat sich erstmals ein weißer Fotograf daran gemacht, das Leben von Wanderarbeitern umfassend zu fotografieren. Als »da bize«, als Langnase, fiel Wolfgang Müller, 54, auf Baustellen und in Fabriken auf wie ein bunter Hund. Und mit der Kamera war das Unsichtbarmachen – zumeist Grundlage für das Fotografieren authentischer Bilder – fast unmöglich. Kompensieren kann man das nur mit dem Einsatz von Zeit. Die Menschen an sich gewöhnen. Ihr Vertrauen gewinnen. Mit dem Subjekt verschmelzen. Dann wird man auch als Fotograf irgendwann unsichtbar.
Sechs Jahre lang, zwischen 2005 und 2011, hat der Berliner denn auch für sein umfassendes Projekt gebraucht. Das schafft nur einer, der zäh und besessen vom Thema ist. Ein solcher Fotograf ist Wolfgang Müller, prädestiniert für Langzeitprojekte fernab des Hyperventilierens der tagesaktuellen Bildberichterstattung. Bereits 2003 hat Wolfgang Müller erstmals mit einem Langzeitprojekt auf sich aufmerksam gemacht: »Karat. Himmel über St. Petersburg«, schildert das Leben von Straßenkindern in der russischen Metropole, die die Tristesse des Alltags im Rausch des geschnüffelten Schuhputzmittels »Karat« zu vergessen suchen.
Wolfgang Müller geht es in seinen Projekten immer um Menschen. Elf Kapitel hat er ihnen in »Mingong« gewidmet, mit insgesamt 106 Fotos . Dem »Betrogenen«, der als Bauarbeiter Hochhäuser mit hochgezogen hat und der um mehrere Monate Lohn geprellt wurde. Der »Träumerin«, die gegen den Willen des Vater in die Großstadt gezogen ist, wo sie nun Müll sortiert und ihren Traum von einer Tibet-Reise nicht aufgeben will. Dem »Erfolgreichen«, der nach 20 Jahren Wanderschaft genug Geld verdient hat, um in seiner Heimatstadt ein Haus zu bauen und zu seiner Familie zurückkehren zu können. Dem »Verlierer«, der nach jahrelangem Schleifen von Schmucksteinen an Staublunge erkrankt ist und weiß, dass er bald sterben wird. Oder die »Ausreißerin«, die vor ihrer Stiefmutter geflohen ist und auch als Hostess nicht die Hoffnung auf den Mann fürs Leben verliert.
Ihnen und einigen anderen ist Wolfgang Müller eine Zeit lang durchs Leben gefolgt, zwischen Arbeits- und privatem Alltag. Erstaunliche Bilder sind ihm dabei gelungen, viele mit so großer Nähe zu den Protagonisten, einige sogar so intim, dass einen unweigerlich verblüfft, wie jemand diese Vertrautheit herstellen kann, der weder Mandarin noch Kantonesisch spricht.
In vielen Fotografien spiegelt sich die Ambivalenz der chinesischen Gesellschaft wieder. Moderne Hochhaustürme und Büroviertel kontrastieren mit ärmlichen Werkstätten und Behausungen, die an das Deutschland der Nachkriegsmonate erinnern. Es sind zwei Welten in einer. Und mittendrin der deutsche Fotograf, der es irgendwie geschafft hat, den Zugang zu bekommen, trotz chinesischer Bürokratie und Medienangst.
Für den, der nicht nur sehen und fühlen will, ist den Fotos ein sehr informativer Text der Sinologin und Politikwissenschaftlerin Dr. Kristin Kupfer über Wanderarbeiter an die Seite gestellt. Außerdem Texte von Wolfgang Müller zu den Protagonisten seines Buches
(Rolf Nobel)
Wolfgang Müller
Mingon. Die Suche nach dem Glück
Vice Versa Verlag, Berlin 2012, 188 Seiten
ISBN 978-3-932809-70-5
39,90 Euro
Rolf Nobel, 62, ist Professor im Studiengang Fotojournalismus und Dokumentarfotografie der Hochschule Hannover
beeindruckende Bilder
Ich finde die Bilder sehr beeindruckend. Es ist das Gefühl, des “ganz-nah-dran-sein-können” so als wären es Bilder aus dem Freundeskreis der Abgebildeten verbunden mit trefflicher Gestaltung und technischer Perfektion. Gratulation.
Respekt: Ein tolles Werk!
Tolle Bilder, Kontraste menschlicher Schicksale. In dieser extremen Form wohl nur in China zu finden. Die hässliche Seite eines dritte Welt Landes, das zu schnell aufsteigt, gewachsene Traditionen gnadenlos über Bord wirft und seine Gesellschaft völlig überfordert. Ein trauriges Kapitel von einem Reichtum, der sich für eine kleine Gruppe von Möchtegern Juppis und Funktionären explosionsartig entwickelt und von dem die Masse kaum etwas hat, obwohl dieser Wohlstand auf Schritt und Tritt zum Greifen nahe scheint. Eine tolle fotografische Auseinandersetzung mit sozialen und gesamtgesellschaftlichen Problemen, die sich nicht mehr weglügen lassen. Das China vor 20 Jahren war noch für die meisten gleich, heute gibt es nur noch wenige, die offensichtlich Gleicher sind.
Sudel Eddi.
Würde sich die Welt ein wenig schneller drehen, würde es die Bekloppten einfach wegschleudern.
Manche würden soviel Energie entwickeln, dass sie bis zum Mond fliegen.
Das mit dem Reichtum
– dem ungleich verteilten – ist kein allein chinesisches, sondern ein globales Problem. Und: Es tritt überall dort auf, wo sich Wenige auf Kosten Vieler bereichern (können/dürfen) – aber es wäre dann kein Problem mehr, wenn sich die Vielen dieses Umstandes einmal voll bewußt würden, und die Gierigen und Nimmersatten zum Teufel jagten.
Nicht der erste Fotograf!
“Jetzt hat sich erstmals ein weißer Fotograf daran gemacht, das Leben von Wanderarbeitern umfassend zu fotografieren.”
Diese Aussage dürfte nicht ganz stimmen. Schon seit 2002 hat der Schweizer Fotograf Andreas Seibert Wanderarbeiter in China begleitet. Dazu gab es 2011 eine wunderbare Doku auf 3sat, die ihn auf seinen Reisen 2006, 2007 und 2008 filmisch begleitet.
http://www.andreasseibert.com/book.php
Dankeschön für diesen link
…mit wirklich feinen Fotografien!
Toll und wichtig
Mal wieder ein Werk, das wirklich interessiert.
Ich habe mich oft gefragt, “wie es den da drüben wohl geht”… Man weiss viel aus den Medien, aber man weiss eigentlich nichts. Hier können “hautnahe Bilder” noch eine ganze Menge vermitteln.
Ob ich mir nach gefühlten 20 Jahren wieder einen Bildband kaufe? Bei dem hier vorgestellten Buch wäre ich endlich mal wieder in Kauflaune und ich schätze, es würde mir in jeglicher Hinsicht viel bringen.
Habe Wolfgang Müller 1999
Habe Wolfgang Müller 1999 (oder 2000?) mal kurz kennengelernt als er den Dummy von Karat überall herumzeigte. Guter Verkäufer!
Wie auch bei ‘Karat’ werden sich die Freunde des satten Klischees an diesem Buch erfreuen. Vor dem Hintergrund der grassierenden Abstiegsangst sollte für diese einfache Form von Trost 40,- € drin sein.
Wenn in Deutschland nicht
Wenn in Deutschland nicht irgendwo das Wort ‘sozialkritisch’ auftaucht, taugt es nichts. Weder eine TV-Sendung, noch eine Zeitung, noch ein Bildband.
Die Teutonen haben einen gewaltigen Dachschaden.
Teutonen ?
Teutonen gibts nicht mehr. Hier laufen, meines Wissens, nur noch politisch korrekte Neuronen rum.