„Die jungen Künstler im Westen produzieren nichts anderes als Fußnoten zur Kunstgeschichte, und dann taucht ein Künstler aus China auf, der an alles anders herangeht und 98 Prozent der Kunstwelt sehr, sehr alt aussehen lässt“
… sagt Ausstellungsmacher Roger Buergel in einem Kurz-Interview mit dem Spiegel über den chinesischen Künstler Ai Weiwei und zu den Gründen der spärlichen Reaktionen der Kunstwelt auf dessen Verhaftung.

Ai Weiwei: June 1994 (Juni 1994)
© Ai Weiwei
Das Fotomuseum Winterthur hat dem Künstler eine große Ausstellung gewidmet:
Ai Weiwei Interlacing
28. Mai bis 21. August 2011
Fotomuseum Winterthur (Halle und Galerie)
Ai Weiwei Interlacing ist die erste große Ausstellung mit Fotografien und Videos von Ai Weiwei. Sie stellt den Kommunikator Ai Weiwei in den Vordergrund, den dokumentierenden, analysierenden, verflechtenden und über viele Kanäle kommunizierenden Künstler. Ai Weiwei hat bereits in seiner New Yorker Zeit fotografiert, vor allem aber seit seiner Rückkehr nach Peking unablässig die alltäglichen, städtebaulichen und gesellschaftlichen Realitäten in China dokumentiert und über Blogs und Twitter diskutiert. Die Fotografien des radikalen städtebaulichen Wandels, der Suche nach Erdbeben-Opfern, der Zerstörung seines Shanghai-Studios werden zusammen mit den kunstfotografischen Projekten, dem Documenta-Projekt Fairytale, den unzähligen Blog- und Handy-Fotografien vorgestellt. Ein umfangreiches Material- und Archivbuch begleitet diese Ausstellung.
Ai Weiwei ist ein generalistischer, konzeptueller, gesellschaftskritischer Künstler, verschrieben der Reibung mit und der Gestaltung von Realitäten. Er ist als Architekt, Konzeptkünstler, Bildhauer, Fotograf, Blogger, Twitterer, Interviewkünstler und politischer Aktivist ein Seismograph für aktuelle Themen und gesellschaftliche Probleme: ein großer Multiplikator und Kommunikator, der das Leben zur Kunst und die Kunst zum Leben führt.

Ai Weiwei: Study of Perspective – Tiananmen (Perspektivische Studie – Platz des himmlischen Friedens), 1995-2003
© Ai Weiwei
Ai Weiwei: Study of Perspective – The Eiffel Tower (Perspektivische Studie – Der Eiffelturm), 1995-2003
© Ai Weiwei
Ai Weiwei wurde 1957 als Sohn des Dichters Ai Qing geboren. Nach einem Studium an der Beijing Film Academy gründete er 1978 mit anderen zusammen das Künstlerkollektiv The Stars, das sich gegen den sozialistischen Realismus auflehnte und sich für die künstlerische Individualität und das Experimentelle in der Kunst einsetzte. 1981 ging Ai Weiwei in die USA, 1983 nach New York, wo er an der Parsons School of Design beim Maler Sean Scully studierte. In New York entdeckte er Künstler wie Allen Ginsberg, Jasper Johns, Andy Warhol und vor allem Marcel Duchamp. Duchamp ist wichtig für ihn, weil er Kunst als Teil des Lebens begreift. Es entstanden erste Readymades und Tausende von Fotografien, die seinen Aufenthalt und den seiner chinesischen Künstlerfreunde in New York dokumentieren. Nachdem sein Vater erkrankte, kehrte Ai Weiwei 1993 nach Peking zurück. 1997 begründete er das China Art Archives & Warehouse (CAAW) mit und begann, sich auch mit Architektur auseinanderzusetzen. 1999 eröffnete Ai Weiwei ein eigenes Studio in Caochangdi, 2003 gründete er das Architekturstudio FAKE Design. Im selben Jahr war er zusammen mit den Schweizer Architekten Herzog & de Meuron maßgeblich am Bau des Olympiastadions, des sogenannten Birds Nest, beteiligt, das nach seiner Fertigstellung zum neuen Wahrzeichen Pekings wurde. 2007 reisten 1001 Chinesen und Chinesinnen auf seine Veranlassung hin zur Documenta 12 nach Kassel (Fairytale). 2010 verwunderte er die Welt mit seinem großen, aber formal minimal angelegten Teppich aus Millionen von Sonnenblumenkernen bestehend aus handbemaltem Porzellan in der Tate Modern.
Ai Weiwei setzt sich bewusst mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in China und in der Welt auseinander mittels fotografischer Dokumentationen des architektonischen Kahlschlags von Peking im Zeichen des Fortschritts, mit provokativ erscheinenden Vermessungen der Welt, seinen persönlichen Standortbestimmungen in Study of Perspective, mit radikalen Schnitten an der Vergangenheit (Teilungen und Neuzusammenfügungen von vorgefundenen Möbelstücken), um für die Gegenwart und Zukunft Möglichkeiten zu schaffen, und mit seinen Zehntausenden von Blogtexten, Blog- und Handy-Fotografien (nebst vielen anderen künstlerischen Stellungnahmen). Dieses erste große Ausstellungs- und Buchprojekt seiner Fotografie- und Videoarbeiten will diese Vielfältigkeit, Vielschichtigkeit, Vernetztheit von Ai Weiwei, dieses «Interlacing» und «Networking» mit Hunderten seiner Fotografien, mit seinen Blogs und mit erläuternden Essays ins Zentrum rücken und thematisieren.

Ai Weiwei: Profile of Duchamp, Sunflower Seeds (Duchamps Profil, Sonnenblumenkerne), 1983
© Ai Weiwei
Der Künstler als Netzwerk, als Firma, als Aktivist, als politische Stimme, als soziales Gefäß, als Agent provocateur: Jede Gesellschaft auf dieser Welt braucht zu jeder Zeit, in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, singuläre, herausragende Figuren wie Ai Weiwei, um wach zu bleiben, um wach gerüttelt zu werden, um den eigenen Starrsinn zu erkennen und um die eigene Betriebsblindheit vermeiden zu können. Wir bedauern, dass die Fertigstellung dieses Projektes mit der Verhaftung von Ai Weiwei zusammenfällt, die wir aufs Äußerste missbilligen. Wir sind in großer Sorge um den Künstler und wünschen, dass dieser große Denker, Gestalter und Kämpfer uns allen, besonders aber China, als widerständige öffentliche Stimme erhalten bleibt.
Die Ausstellung und das Buch wurden in enger Zusammenarbeit mit Ai Weiwei entwickelt. Bei der Fertigstellung des Buches hingegen war er aus den genannten Gründen nicht beteiligt. Wir hoffen weiterhin, dass er bei der Installation der Ausstellung persönlich anwesend sein kann.
Die Ausstellung wurde vom Fotomuseum Winterthur in enger Zusammenarbeit mit Ai Weiwei (und seinem Assistenten Lucas Lai) organisiert. Kurator der Ausstellung ist Urs Stahel. Nach dem Fotomuseum Winterthur wird die Ausstellung im Jeu de Paume in Paris gezeigt.

Ai Weiwei: Dropping a Han-Dynasty Urn (Eine Urne aus der Han-Dynastie fallenlassen), 1995
Triptychon
© Ai Weiwei
Ai Weiwei: Provisional Landscape (Vorläufige Landschaft), 2002-2008
Diptychon
© Ai Weiwei
Ausstellung:
Ai Weiwei Interlacing
28. Mai bis 21. August 2011
Fotomuseum Winterthur (Halle und Galerie)
Grüzenstrasse 44 + 45
CH-8400 Winterthur (Zürich)
Katalog:
Ai Weiwei Interlacing
Hg. Urs Stahel / Daniela Janser
Mit Beiträgen von Carol Yinghua Lu, Daniela Janser, Urs Stahel und Philip Tinari
496 Seiten, ca. 600 Abbildungen
Steidl, Göttingen
Preis: CHF 45.-

Ai Weiwei
© Ai Weiwei
Ai Weiwei: 6/1/08, Wenchuan, China
© Ai Weiwei
(thoMas)
Au wei au wei
„Eine Urne aus der Han-Dynastie fallenlassen“ – tolle Kunst.
Aber damit ist bewiesen – der Millionär hat nicht mehr alle Urnen im Schrank.
„I love my job,
it’s the work I hate.“
Es geht um den endgültigen und raschen Zerfall der alten Kultur
Es geht um den endgültigen und raschen Zerfall der alten Kultur Chinas. im Moment des Aufpralls zerbricht der Krug und kommt nicht mehr wieder. Nur 2 Jahre zu spät
Total überbewertet?
Sorry, aber wenn die „Werke“ Ai Weiweis die in diesem Artikel gezeigt werden, repräsentativ für seine Kunst sind, dann kann ich die Euphorie des Herrn Buergel echt nicht nachvollziehen…
DingDongDilli schrieb:
[quote=DingDongDilli]Sorry… echt nicht nachvollziehen…[/quote]
Sorry, aber wenn Ihre „Gedanken“ und Ihre „Sprache“, wie Sie hier entäußert werden, represäntativ für Ihr Gehirn sind…
wessen Propaganda?
Das schöne an Kunst ist:
sie bleibt Kunst, selbst wenn sie politische Propaganda ist, oder als solche genutzt wird.
Manchmal ist sie dann Politkunst, wenn sie als politische Kunst intendiert war, ist sie AUCH Propaganda.
Nun kommt die Frage, wessen Propaganda ist sie für was?
Muß China AuWeia ernstnehmen?
Wohl kaum, aber nun können sich alle zusammentun die politische Kunst bislang immer ablehnten, nun aber mal eins sind mit ihren Zielen.
Das erste Bild
ist doch niedlich…
🙂
!!!
Sehr gut. Jeder Bericht
Sehr gut. Jeder Bericht über ihn ist momentan wichtig um nicht zu vergessen in welcher Lage er gerade ist.
Außerdem mal interessant für alle die glauben ein Profifotograf sei ausschließlich ein Sport- oder Presseknipser. Hier bekommen sie das krasse Gegenteil gezeigt 🙂
zur Lage
[quote=Gast]… in welcher Lage er gerade ist.[/quote]
Er wird gerade in der westlichen Welt medial als Ersatz Dalai-Lama aufgebaut, nachdem die alte Gelbmütze nicht mehr so richtig zieht.
Ansonsten: „trug Ai Weiwei bei dem Treffen (am 15. Mai mit seiner Frau) Zivilkleidung, war medikamentös versorgt und konnte im Garten Spaziergänge machen. Ai Weiweis Schwester und Mutter gaben bekannt, sie seien erleichtert, dass er sich in einem guten gesundheitlichen Zustand befinde und nicht misshandelt worden sei.“ (Wikipedia)
Und nicht vergessen – auch Al Capone wurde wegen Steuerhinterziehung verknackt.
Wer gegen die Großen anstinkt, sollte sich halt nicht mit herunter gelassener Hose erwischen lassen.
„I love my job,
it’s the work I hate.“
Die Hand im zweiten Foto
ist unscharf…lol.
Auflehnung gegen das System, kann mir da gewisse Sympatie nicht verkneifen.
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Minolta Minolta
Ich finds gut…
…und vor allem sehr mutig.
Rod
Im wesentlichen Monty Python
Im wesentlichen Monty Python Plagiate. In Bild 2 u. 3 winkt er z.B. den chinesischen It’s – man an die Kamera heran.
Wenn er nicht das Glück hätte, von einer Diktatur drangsaliert zu werden, würde seine Kunst wenig Beachtung finden.
Der Rolleiflexer
Sie meinen wohl:
„Wenn nicht auch die Bildzeitung über ihn geschrieben hätte, dann hätte ich nie von ihm erfahren.“
Beachtung gefunden hatte er schon vorher. Wohl deshalb hat er jetzt auch die Beachtung der Diktatur gefunden. Was im übrigen ein großes Unglück ist.
Schön, dass man über Kunst trefflich streiten kann!
„Die jungen Künstler im Westen produzieren nichts anderes als Fußnoten zur Kunstgeschichte, und dann taucht ein Künstler aus China auf, der an alles anders herangeht und 98 Prozent der Kunstwelt sehr, sehr alt aussehen lässt“
Finde, dass ist ja wohl völlig überbewertet. An keinem dieser Bilder würde ich auch nur ein Funken Kunst festmachen! Die Bilder sind fotographisch kaum bemerkenswert! Seinen eigenen Stinkefinger zu fotogafieren, eine Tonvase fallen zu lassen oder eine der in Asien typischen monotonen Großstadtbaustellen zu fotografieren ist ja wohl nichts künstlerisches. Da kommt noch nicht einmal eine politische Botschaft rüber. Ich hätte mich dazu mit Sicherheit nicht geäußert, aber die reißerische Ankündigung gepaart mit dem mageren Ergebnis hat mich halt dazu verleitet, einen Kommentar abzugeben. Die Bilder sind ganz normale Altagsbilder (Auch wenn die Dame vor der „Verbotenen Stadt“ der Rock hochhebt), da kann man in Asien viel Eindrücklicheres machen. Ich selbst war inzwischen 13 mal in China, habe bei den vielen Reisen durchaus spektakuläre Bilder geschossen, trotzdem habe ich nicht den Anspruch ein Künstler zu sein. Das ist stattdessen normale Altagsfotografie, von mir aus mit einem Schuss Provokation oder auch etwas experimentell, mehr nicht!
Zeigen, die eigenen Bilder!
Danke…
Der Westen
Ai Weiwei – der Name scheint Programm…
Ich bin dem totalitären System (kraft meines Ursprungs) des westlichen Konsums nicht mit Leib und Seele verfallen und renne nicht wie hypnotisiert um das Goldene Kalb, dennoch irritieren mich die Bilder des fernöstlichen Künstlers. Bald scheint es mir (zumindest bei den Sachen, die ich HIER sehe) wie ein Witz, andererseits sehe ich sehr persönliche Reflexionen, die zweifelsohne sowohl befremden als auch ins Ratlose abdriften lassen können.
Dass der AusstellungsMACHER natürlich ordentlich auf den Putz hauen muss, liegt in der Natur der Sache und bekanntermaßen ist Kunst ja vor allem die Kunst, sich selbst zu vermarkten… Am Ende: „Im Westen nichts Neues.“
MfG
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Wissen ist Macht.
[Francis Bacon, 1561 – 1626]
Medienradau
Eigentlich schade, daß Thomas hier auf Bildzeitungsniveau abgleitet und sich dem Medienradau anschließt.
Ziemlich untere Schublade, auch wenn der Fotos macht.
Und bitte, wer macht keine Fotos?
Also können wir jetzt jedermanns Quark diskutieren.
Womit ich nicht verhehlen will, daß der kein Jedermann ist, aber Beuys wußte ja: jeder ist ein Künstler.