Für 500.000 Menschen geplant, war Le Corbusiers Planstadt „Chandigarh“ damals, 1951, ein überaus ehrgeiziges Projekt; ein optimistisches Signal für den Aufbruch in eine neue Zeit. Ernst Scheideggers Fotografien aus jener Zeit teilen den Optimismus des Architekten:
Fotograf, Filmemacher, Designer, Grafiker, Bildredakteur, Maler, Verleger, Galerist, Gründungsmitglied der Agentur „Magnum“. Kaum ein Medium, das dem Schweizer Ernst Scheidegger fremd war, kaum einen Weg, den er nicht beschritten hat. Der 1923 in Rorschach geborene Scheidegger besuchte von 1939 bis 1944 die Zürcher Kunstgewerbeschule, dann die Fachklasse für Fotografie, bald wurde er Assistent Max Bills mit einem Lehrauftrag an der legendären, dem Bauhaus verpflichteten Ulmer „Hochschule für Gestaltung“.
Von Anfang an will er sich nicht entscheiden: Es entstehen Reisereportagen für die Pariser „Magnum“-Agentur, Arbeiten für „Paris Match“, „Life“ oder den „Stern“, Plakat-Entwürfe und Ausstellungsgestaltungen. Seit 1960 arbeitet Scheidegger auch als Bildredakteur der „Neuen Zürcher Zeitung“. Doch alle diese mit Freude angenommenen Verpflichtungen haben den Alleskönner nicht blind gemacht für die feinen Nuancen des künstlerischen Gestaltens. Freie Portrait-Arbeiten entstanden an erster Stelle solche von Alberto Giacometti, mit dem Ernst Scheidegger eine lebenslange Freundschaft verbunden hat.
Doch auch als Architekturfotograf war Scheideggers Blick, wie Eberhard W. Kornfeld geschrieben hat, „geprägt vom Verständnis für die Situation und von tiefer Menschenkenntnis“. Dies zeigt ein wundervoll gestalteter, perfekt gedruckter Band, der im Verlag Scheidegger & Spiess erschienen ist. „Chandigarh 1956“ illuminiert die Bautätigkeit Le Corbusiers an den Regierungsgebäuden der indischen Stadt Chandigarh, doch das Buch ist mehr als eine Dokumentation des Fortschritts der Bauarbeiten.
Immer wieder wirft Scheidegger einen tiefen, luziden Blick auf das Leben, die Lebensumstände der Menschen in Chandigarh. Genauso wie Le Corbusiers Architektur den Ideen einer heute eher umstrittenen architektonischen Moderne verpflichtet ist, so sind Scheideggers Schwarzweiß- und Farbbilder Dokumente ihrer Entstehungszeit, wie Verena Huber Nievergelt in ihrem Buchbeitrag skizziert.
Drei mal reiste Scheidegger während der Bauzeit in den Punjab, an den Rand des Himalaya mit der Aufgabe, Fotografien für eine Buchreihe anzufertigen, welche die Bauideen der architektonischen Moderne einem breiteren Publikum zugänglich machen sollte. Zwar wurde diese Reihe nie publiziert, doch die Fotografien lassen noch heute staunen: Sie sind anmutige Bilder der Bauarbeiten an einer „perfekten Stadt“, Bilder der strengen Vision ihres Schöpfers Le Corbusier.
Für 500.000 Menschen seit 1951 geplant, war Chandigarh ein überaus ehrgeiziges Projekt. Es sollte ein optimistisches Signal sein für den Aufbruch in eine neue Zeit erst 1947 war Indien in die Unabhängigkeit entlassen worden. Chandigarh ist wie Brasilia eine Realität gewordene Plan-Stadt, ein Schachbrett aus 60 Rechtecken, ein graues, heute brüchiges Denkmal der Architektur-Moderne, in ästhetischer Hinsicht umstritten, aber auch in humaner: Heute erscheint die strickte Trennung der Lebens- und Arbeitsbereiche unverständlich.
Doch die Fotografien Scheideggers teilen den Optimismus des Architekten und zeigen in leuchtenden Farben Menschen bei der Arbeit an diesem Mammutprojekt: Menschen an der Schwelle in eine neue Zeit. Auch wenn wir den Fortschrittsoptimismus dieser Bilder heute kaum mehr nachempfinden können, so berauschen Scheideggers Fotografien immer noch als Architekturbilder, die den Fokus nicht auf Mauern, sondern auf den Menschen selbst richten. Essays zur Geschichte und Bedeutung von Chandigarh runden einen Band ab, dem man schon heute zu den schönsten Fotobüchern des Jahres zählen kann.
(Marc Peschke)
Stanislaus von Moos (Hrsg.)
Chandigarh 1956. Fotografien von Ernst Scheidegger (bei amazon.de)
Mit Texten von Maristella Casciato, Verena Huber Nievergelt, Stanislaus von Moos und Ernst Scheidegger
Mit Faksimile der Original-Buchmaquette von 1956
Deutsch und englisch
Gebunden. 272 Seiten
ISBN 978-3-85881-222-3
55 Euro
Ich warte auf blöde kommentare!
entweder gegen architekten oder gegen die fotografien!
mit 4/3 wär’s eine tolle stadt geworden!
Mit 4/3
ist’s so, wie mit dieser Stadt: Eine Totgeburt … 😎
NZZ am Wochenende
Ich habe Ernst Scheidegger und sein Team von NZZ am Wochenende Ende der 70er aufgrund einer Bildseite kennengelernt. Dass er Magnum-Mit-Gründer ist war mir noch unbekannt. Die Wochenend-Beilagen waren wie die Zeitung jahrzehntelang konsequent in SW gehalten. Die Reportagen waren/sind immer sehr anspruchsvoll, aufwendig und kompetent. Jeweils ein Highlight der Woche. Die neue NZZ hat das Niveau durch den Farbeinsatz nicht verloren. Die neugestaltete Zeitung zu lesen ist eine Wonne. Es gibt auch Hochglanz-Beilagen in Grossdruck.
www.3dreal.ch
zzt in renovation
alles dreidimensional
foto-panorama-video
flug-marspanoramen…
Nanu?
Umstritten ist Corbusiers Architektur ja nun nicht gerade, zumindest in Fachkreisen. Die Stadtplanung mit ihrer Trennung der einzelnen Bereiche Wohnen, Arbeiten … natürlich auch nicht mehr, sondern als Irrtum erkannt – eben auch aus dem Fotschrittsglauben der damaligen Zeit (bzw. eher) erwachsen und genauso ja wiederzufinden in Brasilia.
Aber das hier ist ja auch kein Architektur-, sondern ein Fotoforum. Daher stellt sich mir die Frage (von der Vignette mal abgesehen), woher denn die Perforation im zweiten Bild kommt. Ich nehme an, er hat zu der Zeit sicher mit Leica M fotografiert. Aber hat die denn in die Perforation belichtet?
Bei seinem Kollegen Bresson findet man die Perforation ja auch wieder. Die aber ist doch später einbelichtet, oder etwa nicht?
Gruß
Grüßender
Unumstritten
ist sie umstritten … 😉
Besonders das Bild mit der Perforation
hat sowas zwingend Heroisierendes – wie beim Turmbau zu Babel.
Aber, pfui, schämen Sie sich! Niemals nie wurden Bresson-Aufnahmen durch einen künstlichen Rand autentifiziert … 😎