Jeden Monat kümmern wir uns um Neuerscheinungen, um neue Ausstellungen, die für zwei, drei Monate zu sehen sind. Immer ist es eine Auswahl, die wir hier präsentieren – vieles bleibt liegen, entfaltet erst Monate später seinen Reiz. Deshalb stellen wir diesmal einige Bücher vor, die nicht mehr ganz „foto-frisch“ sind – dennoch unbedingt Ihre Beachtung finden sollten!

„Wer war Franz Kafka?“ fragten die Kuratoren einer Ausstellung, die vor einiger Zeit im Münchner Literaturhaus zu sehen war. Eine Fotoausstellung, die Kafkas Leben in Bildern zeigte. Wer war Kafka? Ein Depressiver? Ein schmales, dunkeläugiges Genie? Ein Verzweifelter? Das bei Rowohlt erschienene Buch von Hartmut Binder (Kafkas Welt: Eine Lebenschronik in Bildern) zeichnet ein anderes Bild: Es zeigt einen Menschen, der Freunde hatte, ins Kino ging, gerne Bier trank, manchmal aber auch lieber Kaffee. Im Sommer schwamm er gerne in der Moldau. Und er mochte es sehr, von schönen Frauen umgeben zu sein. Kafka – ein ganz normaler Mensch?
 

Kafka in jungen Jahren Kafka als Gymnasiast
Kafka im Jahr 1922

Franz Kafka als Knabe, als Gymnasiast, im Jahr 1922

 
Viele der Schwarzweißfotografien – die meisten sind Schnappschüsse und Amateuraufnahmen aus dem Familien- und Freundeskreis – waren noch nie zu sehen. Sie stellen den 1883 geborenen Prager Autor dar, aber auch seine Familie, etwa die beiden Schwestern Elli und Valli. Wir sehen Straßenszenen in Prag, den Autor bei diversen Kuraufenthalten, auf Reisen – alles in allem ein „Bildspaziergang“ durch das Leben eines Mannes, der stärker als man bisher glaubte, dem Leben zugewandt war. „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigem Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“ Der, der das schrieb, diesen ersten Satz aus „Die Verwandlung“, war nicht nur der womöglich wichtigste Autor der beginnenden Moderne – er war auch nur ein Mensch.

Etwas zu weit war die Reise nach Wien zur Ausstellung „Punk. No One Is Innocent. Kunst – Stil – Revolte“, die in der dortigen Kunsthalle zu sehen war. Doch es ist ein Katalogbuch erschienen, welches das Zeug zum Klassiker hat und mittlerweile günstig erworben werden kann: Punk. No One Is Innocent: Kunst Stil Revolte. Das Buch beschreibt Punk als eine weitreichende, sehr diverse popkulturelle Bewegung, die nicht ein Zentrum, sondern viele Zentren hatte – und sich sehr unterschiedlich äußern konnte.
 

Jamie Reid, God Save the Queen, 1976 Foto Mark Morrisroe, Untitled (La Môme Piaf), 1982

Jamie Reid, God Save the Queen, 1976, © Jamie Reid, Courtesy Vivienne Westwood Archive / Mark Morrisroe, Untitled (La Môme Piaf), 1982, © Nachlass Mark Morrisroe (Sammlung Ringier) im Fotomuseum Winterthur
 
 
Lynda Benglis, Artforum Advertisement, 1974

Lynda Benglis, Artforum Advertisement, 1974, © 2008 Lynda Benglis, VBK Wien 2008, Courtesy Cheim & Read, New York

 
Mode, Musik, Gestik, Design, Fotografie waren im Umbruch: Eine neue Zeit sollte beginnen, die so ganz anders war, als die davor. Hart, kontrastreich sind die Bilder, die Fotografien, Filmstills, die Plattencover und Malereien, die wir im Katalog sehen – die meisten stammen aus den Epizentren Berlin, London und New York. Viele Bilder, die zeigen: Was einst schockierte, ist heute längst im Mainstream, bei H&M & Co. angekommen. Neon-Farben, Plastik-Accessoires, rasierte Schädel, unsymmetrische Frisuren, Metallketten, Nieten, Sicherheitsnadeln, Totenköpfe, die ausgeschnittenen Buchstaben, die Typografie von Erpresser-Briefen, grobkörnige Schwarzweißfotografie – all das ist Punk.

Punk ist heute mehr als 30 Jahre alt: ehemals eine Haltung der Negation, des Widerspruchs, heute ein kunsthistorisches Phänomen, das alle Teile der Kultur umfasst, wie man im Katalog sehen kann. Ob Malerei, Grafik-Design, Fotografie, dieses Buch stellt – alle Genres übergreifend – Künstlerinnen und Künstler vor, die auf verschiedenste Art und Weise mit der Punk-Bewegung assoziiert waren, wie etwa Derek Jarman, Richard Kern, Robert Longo, Robert Mapplethorpe, Mark Morrisroe, Tony Oursler, Die Einstürzende Neubauten, Luciano Castelli oder Martin Kippenberger.

Und noch ein wunderbares, beinahe übersehenes Buch – mit dem akzentuierten Titel „Made in Germany“. Ein polemischer Titel für ein Fotobuch, weil hier die Sphären der Wirtschaft und die der Kunst scheinbar aufgehoben sind: „Made in Germany“, das stand früher vor allem für den wirtschaftlichen Aufstieg der Industrienation Deutschland, erinnert an Wirtschaftswunder – und nicht an Fotokunst.
 

Foto Martin Kunze, aus der Serie „Hochsitze“

Martin Kunze, aus der Serie „Hochsitze“
 
 
Foto Fergus Padel, Hannes und Sophie

Fergus Padel, Hannes und Sophie
 
 
Foto York Christoph Riccius, Psychoimbiss

York Christoph Riccius, Psychoimbiss

 
Ein „Erstes Kompendium zeitgenössischer Fotografie aus Deutschland“ möchte dieses Buch sein. Und es ist tatsächlich ein hervorragendes Nachschlagewerk, das mehr als 50 Fotografen und Fotografinnen vorstellt. Da gibt es Reportage-Bilder, Fotojournalismus, Porträts, Landschaftsfotografie und freie, experimentellere Arbeiten zu bestaunen: Alle Sparten des Fotografischen sind vertreten. Schwer ist es, einzelne Positionen hervorzuheben – zu viele sind es. Und: Zu gut ist die Qualität.

Trotzdem ein Versuch: Man blättere etwa zu den „Wildpflanzen“ von Axel Hoedt und zu den Waldbildern von Jörn Vanhöfen, wunderbare Fotografien, ausgesucht von Andrea Grothe, der Foto-Chefin des „Stern“, perfekt ins Buch gebracht von Gestalter Dirk Linke, der die Bilder zu einer facettenreichen Reise durch Deutschland verdichtet hat. Ein Buch für einen langen Abend mit vielen Entdeckungen: Tipp!

Nicht die zeitgenössische Fotokunst, sondern die Fotografie-Sammlung des Saarlandmuseum ist das Thema eines Bandes mit dem schönen Titel „Gebanntes Licht“. Präsentiert wird eine Sammlung, doch mehr als das: Es ist die Geschichte der Fotografie selbst, die man auf 216 Seiten verfolgen kann.
 

Foto James Robertson, Sphinx im Pyramidenfelde zu Gizeh, um 1855

James Robertson, Sphinx im Pyramidenfelde zu Gizeh, um 1855
 
 
Foto Peter Keetman, Öltropfen auf Wasser, 1950

Peter Keetman, Öltropfen auf Wasser, 1950. Copyright: Stiftung F. C. Gundlach, Hamburg

 
Das älteste Exponat der Sammlung ist eine 1844 in Saarbrücken entstandene Daguerreotypie: Sie stellt den Anfang der Sammlung dar, doch noch vieles mehr aus der Frühzeit der Fotografie ist zu bewundern – wie einige Porträtfotografien auf Albumin-Papier. Dazu gesellen sich Reisefotografien aus den 1850er Jahren von James Robertson und Auguste Salzmann, die Motive aus dem Orient und dem Krim-Krieg zeigen – sowie ein 1892 entstandenes Album mit Aufnahmen aus Spanien von Jean Laurent. Ein weiterer früher Höhepunkt der Sammlung sind Mappenwerke, welche 1874 die ersten Bayreuther Bühnenbilder dokumentierten.

Fotografie gesammelt wurde im Saarbrücker Saarlandmuseum erst seit 1955. Ein Schwerpunkt war seitdem die „subjektive fotografie“ des 1915 in Saarbrücken geborenen Otto Steinert. Auch viele andere Klassiker der Fotografie sind in dem Buch versammelt, wie etwa der Bauhauslehrer László Moholy-Nagy, Raoul Hausmann, Albert Renger-Patzsch, Robert Häusser oder Henri Cartier-Bresson.

Vom Saarland nach Manila: In Peter Bialobrzeskis Fotobuch „Paradise Now“ beschäftigte sich der 1961 geborene Hamburger Fotograf mit der Natur am Rande der Städte. Wie anders zeigt sich der Fotograf mit „Case Stuy Homes“, das Bialobrzeski im Rahmen eines Projektes in Manila fotografiert hat.

„Case Study Homes“ ist in Baseco, einer Slum-Siedlung zwischen zwei Containerterminals in Manila entstanden. Ein Ort der Armut, Platz für etwa 70 000 Menschen, an dem sich dennoch der Wunsch der Bewohner äußert, sich ein Zuhause zu schaffen. Diese auf Stelzen stehenden Behausungen bauen die Menschen aus dem, was sie haben: aus dem Müll der Zivilisation. Aus Euro-Paletten, aus Wellblech, aus Plastikplanen oder Wahlplakaten und Schwemmgut. Architekturen aus Karton und Mülltüten – die Rückseite des globalen Wachstums, die Kehrseite der glänzenden Städte. Hier, im Slum Baseco, ganz in der Nähe der schicken Uferpromenade von Manila, leben vor allem Arbeitsmigranten aus der philippinischen Provinz, die ihre Heimat in der Hoffnung auf ein besseres Leben verlassen haben.
 

Foto Peter Bialobrzeski: Case Studies
 
 
Foto Peter Bialobrzeski: Case Studies
 
 
Foto Peter Bialobrzeski: Case Studies

Peter Bialobrzeski: Case Studies

 
Diese Dokumentarfotografien aus einem Elendsviertel – deren Sichtung zeitlich mit dem Zusammenbruch der Lehman Brothers Bank und dem Paranoia vor einer Weltwirtschaftskrise zusammenfiel – sind in ihrer Haltung nicht ganz eindeutig. Aus ihnen spricht vieles. Zum einen Faszination, wie der Fotograf selbst sagt: „Manche der Häuser kommen mir vertraut vor, wie ein Gesicht das sich vor langer Zeit in die Erinnerung geschlichen hat.“

Vertraut sind jene zusammengezimmerten Behausungen auch aus der Fotogeschichte. Die Bilddokumente ländlicher Armut der „Großen Depression“ der amerikanischen Fotografen Walker Evans, Dorothea Lange oder Arthur Rothstein – entstanden in den dreißiger und vierziger Jahren – zeigen ähnlich karge Architekturen. Arthur Rothsteins Bild eines Mannes, der mit seinen Söhnen vor einem Sandsturm flüchtet, zählt Bialobrzeski selbst zu den großen geistigen Vorbildern seiner neuen Serie „Case Study Homes“.

So viele Jahrzehnte später hat sich das Elend noch nicht aus der Welt verabschiedet. Das Elend gibt es immer noch. Das ist die eine Lesart dieser Bilder. Doch es gibt auch noch eine andere Lesart, auf die der Fotograf hinweist: Wie Widerstands-Architekturen muten diese Häuser an, wie die Hütten in der „Republik Freies Wendland“, wie die Waldhütten der Startbahn West-Gegner am Frankfurter Flughafen. Doch gegen was widerstehen sie? Gegen das Meer wohl kaum – auf überraschend würdevolle Weise aber vielleicht gegen die Hoffnungslosigkeit. Ein karges, minimalistisches, kleines Buch, das doch voller Sehnsucht steckt.

(Marc Peschke)