Lasar (El) Lissitzky, Selbstporträt, 1924»Experimentieren ist unsere Pflicht«, so lautete die Parole einer russischen Avantgardisten-Gruppe zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Im Zuge dessen durchdrangen Impulse aus der bildenden Kunst auch das Medium der Fotografie. Eine Rüsselsheimer Ausstellung weiß Interessantes aus dieser Zeit des Aufbruchs und des Suchens zu zeigen und zu berichten:

Presseinformation der Opelvillen Rüsselsheim:

»Wir müssen den Schleier von unseren Augen reißen«

Fotografie und Zeichnung der russischen Avantgarde aus der Sammlung der Sepherot Foundation
Kunst- und Kulturstiftung Opelvillen Rüsselsheim,
Sepherot Foundation Liechtenstein, Kunstmuseum Bochum
Opelvillen, Rüsselsheim
17. Dezember 2014 bis 8. März 2015

Eine Bilderreise zum Neuen Sehen in der Fotografie der russischen Avantgarde

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts suchten Künstler allerorten neue Ausdrucksformen. Die russische Avantgarde entwickelte – inspiriert von westeuropäischen Kunstströmungen – eine genuin eigene, revolutionär ungegenständliche Darstellungsweise. Die Ausstellung mit rund hundert Exponaten veranschaulicht, wie die aus der bildenden Kunst kommenden Impulse auch das Medium der Fotografie durchdrangen und dort trotz des totalitären Systems Sowjetrusslands nachhallen konnten. Maler wie Alexander Rodtschenko widmeten sich schließlich ganz dem jungen Medium und suchten in ungewohnten Motiven aus unüblichen Perspektiven abstrakt-malerischer Bildkompositionen. Auch EI Lissitzky oder Georgi Selma übertrugen bildnerische Strategien auf die Fotografie.
 

Ilja Tschaschnik, Komposition mit rotem Kreis, 1923–1924

Ilja Tschaschnik, Komposition mit rotem Kreis, 1923–1924
Sepherot Foundation (Liechtenstein)

 
Mit der puristischen Radikalität des Schwarzen Quadrats, das 1915 in der Ausstellung 0, 10 erstmals gezeigt wurde, begründete Malewitsch die absolut reine geometrische Abstraktion seines Suprematismus. Eine ästhetische, völlig zweckfreie Umgestaltung der Welt, in der nicht die Gesetze der Schwerkraft herrschen, sondern die des schwerelosen Weltraums, war das Ziel der Suprematisten. Im wahrsten Sinne des Wortes sprengten sie die formalen Grundsätze der perspektivischen Darstellung und schufen eine neue, autonome Bildwirklichkeit. In der Überwindung der Schwerkraft sahen die Künstler ein Äquivalent zur revolutionären Umgestaltung des Lebens und zur Erneuerung aller Lebensprinzipien. EI Lissitzky traf 1919 an der Kunstschule in Witebsk auf Malewitsch, den geistigen Vater und charismatischen Führer des Suprematismus. Tief beeindruckt von dessen revolutionären suprematistischen Ideen schloss er sich der Gruppe UNOWIS an und weitete die gegenstandslosen Gestaltungsprinzipien Malewitschs ins Räumliche aus. Anfang der 1920er-Jahre begann Lissitzky dann mit der Fotografie zu experimentieren.

»Experimentieren ist unsere Pflicht«, lautete die Parole jener Gruppe, die sich 1923 um den Dichter Wladimir Majakowski zusammengeschlossen hatte. Auch Rodtschenko verstand das junge Medium als Experimentierfeld für neue Raumerfahrungen und begann 1924 zu fotografieren. Eine enge Beziehung zwischen Geometrie und Konstruktion kennzeichnet seine Fotografien. So basieren seine fotografischen Kompositionen häufig auf Diagonalen. 1925 wurde Rodtschenko beauftragt, den sowjetischen Pavillon für die Internationale Ausstellung für Dekorative Kunst und moderne Produktgestaltung in Paris zu gestalten, und vier Jahre später nahm er an der bahnbrechenden Ausstellung des Stuttgarter Werkbunds Film und Foto teil. Auch wenn die experimentelle Fotokunst ihren internationalen Durchbruch feierte, spitzte sich Anfang der 1930er-Jahre die Lage in Russland zu. Nachdem die Avantgardisten nach Stalins Machtübernahme zunehmend unterdrückt worden waren, wurde 1932 schließlich der Sozialistische Realismus von der russischen Partei zur Staatskunst erklärt. Arbeitsverbot oder Haft drohte Andersdenkenden. Künstler wie Malewitsch beugten sich der diktatorisch zentral gesteuerte Agitationskunst und begannen wieder, gegenständliche Bilder von arbeitenden Bauern zu malen. Auch die Fotografie instrumentalisierte der russische Staat zunehmend für sozialistische Interessen. Rodtschenko blieb zwar als Fotoreporter tätig und dokumentierte Sportereignisse, Paraden der Roten Armee, Massenveranstaltungen oder Zirkusdarbietungen, doch der utopische Glaube an eine Veränderung der Gesellschaft durch die Mittel der Kunst gehörte nun der Vergangenheit an. Ein spezielles Objektiv, das Thambar-Weichzeichnungsobjektiv, nutzte Rodtschenko 1940 für seine Zirkusaufnahmen, als wollte er Schleier auftragen.

Um die Herkunft des »fotografischen Konstruktivismus« aus der gegenstandslosen Kunst in der Ausstellung »Wir müssen den Schleier von unseren Augen reißen« Fotografie und Zeichnung der russischen Avantgarde aus der Sammlung der Sepherot Foundation zu verdeutlichen, wird die Gegenüberstellung von Papierarbeiten, Zeichnungen und Fotografien aus den Jahren von 1900 bis 1940 in sechs Sektionen verdichtet:

1. Sektion: Suprematismus / Fotografie
mit Werken von: Kasimir Malewitsch, Nikolai Sujetin, I1ja Tschaschnik, Nadeshda Udalzowa und Alexander Rodtschenko

Aus einfachen geometrischen Elementen entwickelte Kasimir Malewitsch das Formenrepertoire des Suprematismus: Durch Drehung des Quadrats entstand der Kreis, durch Teilung zweier Rechtecke ließ sich das Kreuz bilden. Sein Initialwerk Schwarzes Quadrat, ein mit Ölfarbe auf weißem Grund gemaltes rein schwarzes Quadrat, stellte er zum ersten Mal 1915 aus. Die neue Richtung gegenstandsloser Malerei zur Veranschaulichung höchster menschlicher Erkenntnisprinzipien beeinflusste zahlreiche Maler. Dazu zählen Malewitschs Schüler Nikolai Sujetin und IIja Tschaschnik, die in ihren Zeichnungen suprematistische Körper variieren. Beide entwarfen ab 1922 auf Basis der suprematistischen Idee Bemalungen für Porzellan. Alexander Rodtschenko, der zwischen 1917 und 1920 als ungegenständlicher Maler Flächen und Formen in den Raumüberführte, wandte sich ab 1923 der Fotografie zu. Auch hier hielt er an geometrischen Kompositionsschemata fest. Kreis, Dreieck, Rechteck oder Kreuz zählten weiter zu seinen kompositorischen Grundelementen.
 

Olga Rosanowa, Collage für Alexei Krutschonychs, Mappe »Der Krieg«, 1916

Olga Rosanowa, Collage für Alexei Krutschonychs, Mappe »Der Krieg«, 1916
Sepherot Foundation (Liechtenstein)

 
2. Sektion: Collage / Fotomontage
mit Werken von: Jewgeni Chaldei, Wassili Jermilow, EI Lissitzky, Ljubow Popowa, Alexander Rodtschenko und Olga Rosanowa

Die Montage ist eines der grundlegenden Verfahren der russischen Avantgarde, wobei die bildenden Künstler hier wichtige Impulse von Theaterregisseuren, Filmemachern und Literaten erhielten. Olga Rosanowa ließ sich beispielsweise durch den Dichter Alexei Krutschonych zu Collagen anregen. Das Buch Der Krieg, 1916, zählt zu ihren bedeutendsten Werken und ist einmalig in seiner Zeit. Von den darin enthaltenen gegenstandslosen Kompositionen aus aufgeklebten Elementen mit verschiedenen Oberflächen war es nur noch ein Schritt zur Fotomontage. Das erste Buch, das mit Fotomontagen illustriert wurde, war die Erstausgabe von Wladimir Majakowskis Poem Das bewusste Thema, 1923.Alexander Rodtschenko integrierte in seine Collagen, die durch ihre Anhäufung verschiedener Gegenstände teils dadaistisch anmuten, von Abram Schterenberg aufgenommene Porträtfotos des Dichters. Auch EI Lissitzky wählte die Fotomontage als Experimentierfeld und zeigt sich im collagierten Selbstbildnis als Konstrukteur. Später nutzte er das Verfahren vor allem zur politischen Agitation. Seine Fotomontagen für die Zeitschrift»UdSSR im Aufbau« wurden vorbildlich für eine ganze Generation russischer Künstler.
 

Lasar (El) Lissitzky, Selbstporträt, 1924

Lasar (El) Lissitzky, Selbstporträt, 1924
Sepherot Foundation (Liechtenstein)

 
3. Sektion: Ungegenständliche Komposition / Konstruktion
mit Werken von: Boris Ignatowitsch, EI Lissitzky, Ljubow Popowa, Michail Prechner, Alexander Rodtschenko, Georgi Selma, Wladimir Tatlin, Jakow Tschernichow und Nadeshda Udalzowa

Die sogenannte Erste Arbeitsgruppe der Konstruktivisten, der u. a. Alexander Rodtschenko angehörte, bildete sich im März1921 innerhalb des Instituts für Künstlerische Kultur (INCHUK)in Moskau. Vorausgegangen waren Diskussionen um Konstruktion und Komposition, auf die auch Ljubow Popowa Einfluss nahm. Rodtschenko näherte sich immer mehr der Ansicht an, dass Konstruktion und Malerei unvereinbar seien. Neue Ansätze der Kunst sollten aus Technologie und Ingenieurwesen entstehen und zu Organisation und Konstruktion führen. Der stärkste Katalysator für das Aufkommen des dreidimensionalen Konstruktivismus war Wladimir Tatlins Modell für ein Denkmal der Dritten Internationale, das er 1920 in Moskau ausstellte. Auch wenn Tatlins Entwurf des Denkmals nicht realisiert wurde, gewannen Eisen und Glas als strukturelle Komponenten für die zeitgenössische Ingenieurskunst an Bedeutung. Im Bau befindliche oder gerade fertiggestellte Trägerkonstruktionen, Hochöfen, Kräne, Strommasten schoben sich in das Sichtfeld der Fotografen und wurden festgehalten, auch um damit die Leistungen der neuen Gesellschaft in ihrer Dynamik abzubilden.

4. Sektion: Architektonische Konzepte
mit Werken von: Kasimir Malewitsch, Alexander Rodtschenko, Nikolai Sujetin und IIja Tschaschnik

Um die Jahresmitte 1922 übersiedelte Kasimir Malewitsch mit seinen Studenten Nikolai Sujetin und IIja Tschaschnik nach Petrograd, wo der Suprematismus bei der Konzeption neuer architektonischer Formen zur Anwendung kommen sollte. Nichtweniger als die Schaffung einer neuen Weltordnung war das Ziel der Suprematisten, die in ihren Entwürfen auf konkrete Angaben häufig verzichteten. Wenn Richtungen wie oben und unten, rechts und links aufgehoben werden, scheinen die geometrischen Elemente in einem gegenstandsfreien, endlosen Raumkontinuum zu schweben. Neue Blickwinkel bestimmten auch die Fotografie von Alexander Rodtschenko, der fotografisch demonstrierte, dass die Perspektive sogar auf einer vertikalen Fläche existierte. Als er in der zweiten Hälfte der1920er-Jahre begann, mit einer Leica zu fotografieren, neigte er die Horizontlinie und entwickelte die Diagonale als Kompositionselement. Die Diagonale bestimmte fortan seine fotografische Handschrift.
 

Foto Georgi Selma, Fallschirmspringerin, 1932

Georgi Selma, Fallschirmspringerin, 1932
Sepherot Foundation (Liechtenstein)

 
5. Sektion: Figur und Raum
mit Werken von: Alexandra Exter, Kasimir Malewitsch, Alexander Rodtschenko und Georgi Selma

Aus der Neukonstruktion des Bildraumes ergab sich eine Geometrisierung nicht nur der Formen, sondern auch der menschlichen Gestalt. Geometrisierte Figuren kennzeichnen die Werke von Malewitsch noch Ende der 1920er-Jahre, als er zur figurativen Malerei, vor allem zur Darstellung der bäuerlichen Welt, zurückkehrte. Auch Alexandra Exter spürte den wachsenden Druck des neuen Regimes und emigrierte 1924nach Frankreich. Ihrem Stil treu bleibend, lotete sie Raum und Figur im Kräfteverhältnis geometrischer Formen aus. Eine Abstraktion des Raumes gelang aber durchaus im Anfangsstadium der sowjetischen Fotografie, als die urbane und industrielle Entwicklung, die wachsende Automobilisierung und die Fortschritte in der Luftfahrt die Künstler in ihren Bann zogen. Es war der Dichter Majakowski, der sich 1928 in Paris ein Auto kaufte und damit 1929 von Moskau aus eine Fahrt mit Freunden unternahm, bei der Lilja Brik am Steuer saß und Rodtschenko fotografierte. Die diagonale Bildkomposition wählte Rodtschenko auch für seine im selben Jahr aufgenommene Treppe, wo eine Figur, verlängert durch ihren Schatten, Teil eines grafisch rhythmisierten Raumes wird.

6. Sektion: Vision vom neuen Menschen
mit Werken von: Kasimir Malewitsch, Ida Nappelbaum, Ljubow Popowa, Nikola Sujetin, Alexander Rodtschenko und Konstantin Roshdestwenski

Die russischen Avantgardisten wollten mit den Mitteln der Kunst auch die Gesellschaft verändern. Ihr Glaube an die Utopie sollte einen Nachhall in der Darstellung des Menschen finden. Dabei galt es, eine ideale Form für die Vision vom neuen Menschen zu entwickeln. Die Erkundungen der Avantgardisten auf dem Gebiet des neuen Sehens endeten jedoch, als das politische Klima der Sowjetunion immer reaktionärer wurde. Anfang der 1930er-Jahre verordnete die Partei der Kunst den sozialistischen Realismus und erzwang den Wechsel von der Agitation zur Propaganda. Damit wurden den Künstlern eine allgemeine Verständlichkeit und ein stärkerer gesellschaftlicher Nutzen ihrer Arbeit diktiert. Selbst der für seine Fotokunst angesehene Rodtschenko geriet in die Kritik. Angesichts eines von unten aufgenommenen Pionierfotos wurde er in der Zeitschrift »Sowjetfoto« des Formalismus bezichtigt. Auch andere Avantgardefotografen und -künstler entgingen der Diffamierung nicht, über einige wurde ein Berufsverbot verhängt.

Möglich wurde die Ausstellung nur durch die großzügigen Leihgaben der Sepherot Foundation, die ihren Sitz in Liechtenstein hat und seit Jahren zu den wichtigsten Sammlungen russischer Avantgarde außerhalb Russlands zählt. Die auf russische Kunst spezialisierte Sepherot Foundation sammelt schwerpunktmäßig Kunst der russischen Avantgarde. Zu den Leihnehmern der letzten Jahre zählen die Tate Gallery London ebenso wie die Staatliche Tretjakow Galerie in Moskau oder das Bucerius Kunst Forum in Hamburg.
 
 
Ausstellung:
»Wir müssen den Schleier von unseren Augen reißen«
Fotografie und Zeichnung der russischen Avantgarde aus der Sammlung der Sepherot Foundation
Kunst- und Kulturstiftung Opelvillen Rüsselsheim, Sepherot Foundation Liechtenstein, Kunstmuseum Bochum
17. Dezember 2014 bis 8. März 2015

Kunst- und Kulturstiftung
Opelvillen Rüsselsheim
Ludwig-Dörfler-Allee 9
65428 Rüsselsheim
 

(thoMas)