So Titel und Programm einer Berliner Ausstellung, die eine repräsentative Auswahl aus dem großen Lebenswerk von Gottfried Jäger zeigt, dem wichtigsten Vertreter und Theoretiker abstrakter Fotografie in Deutschland:
Gottfried Jäger: Photo-Digigraphie 081023.1655, 2008, 150×110, Ed.5 / o.T., Fotopapierarbeit, 1986, 40×30, XXII
Bis ins Jahr 1916 brauchte die Fotografie, um zu sich selbst zu finden. In diesem Jahr publizierte der Amerikaner Alvin Langdon Coburn seinen Aufsatz „Die Zukunft der bildmäßigen Fotografie“, der zum ersten Mal Fotos als das betrachtet, was sie auch sind: nicht Symbol oder Bedeutungsträger, sondern schlichtes Objekt.
Dieser so besondere fotohistorische Moment ist der Beginn jeder „Konkreten Fotografie“, wie sie Gottfried Jäger Fotograf und Fototheoretiker in seinen Schriften dargestellt hat. Doch was ist „Konkrete Fotografie“ eigentlich? Folgen wir Jäger, dem wichtigsten Theoretiker abstrakter Fotografie in Deutschland, dem Mitinitiator des „Forschungs- und Entwicklungsschwerpunktes Fotografie und Medien“ an der FH Bielefeld, dann ist „Konkrete Fotografie“, „Konkretisierung der Fotografie, eine Art elementarer künstlerischer Selbstbetrachtung und Selbstreflexion mit dem Ziel, den Blick für die eigenen Verhältnisse zu schärfen.“
Konkrete Fotografie bedeutet nicht zwangsläufig Abstraktion, wie etwa die gegenständlichen Fotogramme der zwanziger Jahre beweisen, doch „konkret“ bedeutet immer „rein“. Konkrete Fotografie verwendet ausschließlich die archaischen Mittel des Fotografischen: Licht und lichtempfindliches Material.
Gottfried Jäger: Spektrum XIX-7, 1981, Chromogener Abzug, 40×30 / Spektrum XIX-4, 1981, Chromogener Abzug, 40×30
Jetzt zeigt die Berliner Galerie „Photo Edition Berlin“ Arbeiten Jägers unter dem Ausstellungstitel „Folgen von Folgen von Folgen von Folgen von Folgen“: Bilder, die nicht symbolisch sind und auf nichts anderes verweisen, als auf ihre eigene Erscheinung. Sie möchten nichts darstellen, außer sich selbst.
Zu sehen ist eine repräsentative Auswahl aus dem großen Lebenswerk des 1937 bei Magdeburg geborenen langjährigen Professors für Fotografie an der Fachhochschule Bielefeld: Arbeiten wie die bekannten „Lochblendenstrukturen“, die seit den sechziger Jahren entstanden sind, als Jäger in Nachfolge des Philosophen Max Bense den Begriff der „Generativen Fotografie“ einführte. Experimentelle, serielle, konstruktive Fotografien oder solche, die das Material selbst zum Thema machen, wie seine neueren Werke aus Fotopapier.
Immer wieder ist das Licht ein Thema Jägers, dessen jüngere Arbeiten auch computergestützt entstehen. Viele der Werke sind von verblüffender Schönheit einer numerischen Schönheit, die bei Jäger stets im Grenzbereich von Wissenschaft und Kunst angesiedelt ist.
Der Titel der Ausstellung geht auf einen Text des Lyrikers Helmut Heißenbüttel aus dem Jahr 1961 zurück, zu dem Jäger zwei Jahre später eine Serie von Lichtgrafiken anfertigte, die in der Ausstellung ebenfalls zu sehen sind. Konkrete Fotografie braucht keine Themen sie ist sich selbst Thema genug. Es ist faszinierend zu sehen, wie beruhigend diese reinen Bilder auf den Betrachter wirken heute vielleicht noch stärker als früher.
„Durch seine Arbeit und Arbeiten“, würdigte die FH Bielefeld Gottfried Jäger anlässlich seiner Emeritierung, „hat Jäger entscheidend dazu beigetragen, dass die Fotografie gleichrangig mit den Künsten Malerei und Bildhauerei genannt wird.“ Für Jäger selbst, so fasst er es auf seiner Internetseite knapp zusammen, ist Konkrete Fotografie auch das: eine „Form der Selbstbehauptung“.
(Marc Peschke)
Gottfried Jäger: Wellenfeld, Lichtgrafik-1-08, 1966, SW-Unikat 23×23
Gottfried Jäger: Kniff, 2006, Luminogramm 2006-I, 50×60
Ausstellung:
Photo Edition Berlin
Ystaderstr. 14a
10437 Berlin
Tel: 030 4171 7831
Mobil: 0157 7141 9616
10. April bis 28. Mai 2011, Eröffnung: Sonntag 10. April 2011, 14 bis 18 Uhr
Buchtipps:
Gottfried Jäger, Rolf H. Krauss und Beate Reese (Hrsg.)
Concrete Photography. Konkrete Fotografie (bei amazon.de; derzeit vergriffen)
Kerber Verlag. Bielefeld 2005
256 Seiten
ISBN 3-936646-74-0
34 Euro
Martin Roman Deppner, Gottfried Jäger (Hrsg.)
Denkprozesse der Fotografie. Beiträge zur Bildtheorie (bei amazon.de)
Die Bielefelder Fotosymposien 19792009
Kerber Verlag. Bielefeld 2010
478 Seiten
ISBN 978-3-86678-3669
19,95 Euro
Weitere Links:
Prof. Gottfried Jäger
Konkrete Fotografie
Gottfried Jäger: Lochblendenstruktur 3.8.14A, 1967, SW-Print, 50×50
Kunst im Wortspiel
Zitat:
„Durch seine Arbeit und Arbeiten“, würdigte die FH Bielefeld Gottfried Jäger anlässlich seiner Emeritierung, „hat Jäger entscheidend dazu beigetragen, dass die Fotografie gleichrangig mit den Künsten Malerei und Bildhauerei genannt wird.“
Wenn es nur die Arbeit, aber nicht die Arbeiten gewesen wären, hätten wir glatt schon ein Problem gehabt. Dann wäre es nichts geworden mit der Kunst auf Augenhöhe. So aber wird die Fotografie – Gott sei Dank! – mit den anderen Künsten gleichrangig genannt. Das war auch mir jetzt ganz wichtig!
Ich schärfe nun wieder den Blick für meine eigenen Verhältnisse und muss konstatieren: Wahre Kunst gibt’s in Photoshop – die Kamera ist doch Pillepalle!
😀
Sonnige Grüße
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Wissen ist Macht.
[Francis Bacon, 1561 – 1626]