Schneiderin, Foto Ramune PigagaiteDie Schneiderin, eine ganz und gar resolute, voluminöse Person im Blumenkleid, hat ein Bügeleisen in ihrer rechten Hand, eine Schere in der linken – und um den Hals, wie es sich gehört, ein Maßband

Ihr Kleid ist sicher selbst geschneidert, denn so ein wunderbares Modell findet man nicht in der Boutique um die Ecke. Was die namentlich nicht genannte Schneiderin tut, teilt sie uns über ihre Attribute mit – fast wie eine Heilige in der christlichen Ikonographie des Mittelalters. Doch wo sie posiert, können wir nur ahnen. Ein Rasenstück und eine weiß getünchte Steinwand. Mehr ist nicht zu sehen. Frauen wie die Schneiderin gibt es in jeder Stadt. Sie begegnen uns im Supermarkt – oder eben in einer Änderungsschneiderei.
 

Schneiderin, Foto Ramune Pigagaite

 
Die Personen in Ramune Pigagaites Serie „Die Menschen meiner Stadt“, allesamt fotografiert in der kleinen litauischen Provinzstadt Varena vor der Hauswand des örtlichen Lebensmittelladens, kommen uns bekannt vor: die Schneiderin mit dem Bügeleisen, der Schuster mit dem Dreifuß unter dem Kittel, der Kammerjäger, der ein totes Mäuschen am Schwanz hält. So sehen wir sie: mit den Attributen, die ihre Profession preisgeben, vor der weißen Wand: Menschen einer verlorenen Zeit.
 

Schuster, Foto Ramune Pigagaite

 
Was uns an den Bildern der in Frankfurt am Main lebenden litauischen Fotografin so gefällt: Diese Menschen sind so anders als das, was Reportage, Werbung und Dokumentarfotografie an Klischees des modernen Lebens sonst ans Licht zerren. Es sind ganz einfach Leute, bei denen man sich gerne das Hemd ändern oder das Loch im Schuh flicken lässt. Menschen, die Mäuse verjagen, wie sie es schon immer getan haben. Menschen aus einer Zeit, in der man Bäcker war oder Schuster. Und nicht Grafikdesigner oder Netzwerk-Profi.

Pigagaite, selbst in Varena geboren, die an der Mainzer Kunstakademie Fotografie studiert hat und von der Wiesbadener Galerie „photonet“ vertreten wird, begann ihre Serie im Jahr 2000. Eine „autobiografische“ Fotoserie, die kaum nach vorne, sondern eher zurück zu blicken scheint. Folgt die Fotografin deshalb einem nostalgischen, gar trüb gewordenen Blick? Eher ist es, als gelänge es ihr, in Zeiten fotografischer Illusionen, konstruierter Realitäten und medialer Unsicherheiten Bilder zu schaffen, die Splitter der Wirklichkeit eingeschlossen haben. So sind die Menschen wirklich! Möchte man ausrufen.
 

Nervenarzt, Foto Ramune Pigagaite

 
Die nur 35 mal 23 Zentimeter kleinen Fotografien von Pigagaite erzählen jede Menge Geschichten. Im Detail (man kann versinken in den Kleinigkeiten: der abgeschabte Koffer des Werkdirektors etwa – oder der Gürtel des Stundenarbeiters) aber auch im Großen: Die Selbstgewissheit, die Festigkeit, die Ruhe der Porträtierten hält uns gefangen. Ob Eisenbahnarbeiter, Gelegenheitsmaler oder Kammerjäger: Sie agieren auf Pigagaites Bühne nicht wie Zeitgenossen der 1966 geborenen Fotografin, sondern wie Symbole ihrer Selbst. Doch anders als bei August Sanders „Menschen des 20. Jahrhunderts“ scheinen sie beseelt. Es ist nicht der sachliche Blick des Dokumentaristen, der aus ihnen spricht.

Natürlich fotografiert auch Pigagaite gegen das Verschwinden. Denn auch in Litauen werden Kammerjäger und Gelegenheitsmaler wohl bald anders aussehen, wie sie selbst sagt: „Auch hier sind langsam die Veränderungen in der Welt spürbar, denn die Brotfabrik, deren Arbeiterin mir einst stolz posierte, gibt es inzwischen nicht mehr und der Werkdirektor ist auch gerade dabei, Konkurs anzumelden.“
 

Bäckerin, Foto Ramune Pigagaite

 
Betrachten wir also die „Menschen meiner Stadt“ von Ramune Pigagaite nicht als fotografische Exotika, sondern als unschätzbar wertvolle Dokumente des Diversen. Freuen wir uns an der Buchhalterin mit der dunklen Hornbrille, an den roten Wangen der Bäckerin. Ganz fest drückt sie den riesigen Brotlaib an ihren Körper. Eine wundervolle Serie, die nun auch als Fotobuch im Wachter Verlag (Edition Braus) erschienen ist.

(Marc Peschke)
 
 

Titelabbildung Ramune Pigagaite - Menschen meiner Stadt

 
 
Dr. Klaus Kleinschmidt (Hrsg.)

Ramune Pigagaite: Menschen meiner Stadt
(bei amazon.de)
Mit einem Essay von Dr. Klaus Kleinschmidt
92 Seiten. Gebunden. 45 Abbildungen
Edition Braus im Wachter Verlag
Heidelberg 2008
ISBN 978-3-89904-325-9
29,90 Euro / SFr 50,90