Es ist, im wahrsten Sinne des Wortes, ein gewichtiges Buch, dieser neue, bei Taschen erschienene China-Band. „China. Porträt eines Landes“ heißt er, ist über 400 Seiten dick und will weit mehr sein als ein Bilderbuch:
China startet sein erstes Raumschiff, die Shenzou No. 6, vom Raumfahrtzentrum Jiuquan in der Wüste Gobi. Foto: Zheng Pingping, 2005
Es ist ein Landesporträt, eine visuelle Zeitreise durch ein Riesenland, das sich in den vergangenen Jahren so grundlegend verändert hat. Es ist eine enorme Bildersammlung: Die Größen des politischen Lebens sind hier zu betrachten, genauso wie Arbeiter, Bauern und die Neureichen, die der chinesische Staat seit einigen Jahren hervorbringt die ganze Geschichte des Landes seit 1949.
Der Band beginnt in der Ära Mao Zedongs, des Führers der Kommunistischen Partei Chinas. Da gibt es etwa jenes Bild, das Maos Leib-Fotografin Hou Bo gemacht hat Mao nach einem rituellen Bad im Jangtse. Oder am Strand von Beidaihe. Ein netter Herr und Vorsteher eines Schreckensregimes. „Dass ein Land dieser Größe so geschunden wurde, dass so viele Menschen gelitten haben, macht mich ungeheuer wütend“, so der Politikwissenschaftler und Herausgeber Liu Heung Shing, der selbst als Fotoreporter arbeitet und einige Bilder beigesteuert hat.
Ein junges Paar wartet am 5. Juni 1989 unter einer Brücke, während die Panzer darüberrollen. Foto: Liu Heung Shing, 1989
Den Tod Maos, die Studentenunruhen im Jahr 1989, das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, den Bruder des letzten Kaisers, den Shing in der Verbotenen Stadt porträtiert hat all das fotografierte Shing, doch die Hauptarbeit an diesem monumentalen Werk war die Sichtung der Archive der anderen Fotografen. 88 sind in diesem Band versammelt, mit Hunderten von Bildern. Da gibt es etwa die erniedrigenden Fotografien von Demütigungen der „Konterrevolutionäre“, die Jiang Shaowu in den Jahren der Kulturrevolution gemacht hat: wichtige visuelle Zeugnisse der Geschichte des Landes, die bisher kaum bekannt sind.
Arbeiter ziehen am Yangtse-Fluss ein Boot flussaufwärts. Sie sind nackt, um die wenigen Kleidungsstücke, die sie besitzen, zu schonen. Foto Qin Wen, 2005
Wir sehen die Heerscharen von Zwangsarbeitern, die Hungerleider, all das Elend, all die Schwermut, all den verordneten Heroismus, das ganze hohle Pathos der Propaganda. „Mein Land hat sich bis zur Unkenntlichkeit verändert“, sagt der Herausgeber heute. Man merkt es beim Betrachten der neuen Bilder: Werbeplakate, Bilder aus Discotheken, Bilder eines Booms, der dennoch nicht vergessen lassen sollte: „Unvergessene Vergangenheit ist eine Anleitung für die Zukunft.“ So lautet ein chinesisches Sprichwort, das am Ende des (in diesem Umfang erstaunlich preisgünstigen) Bandes steht.
(Marc Peschke)
Buch:
Liu Heung Shing (Hrsg.)
China. Porträt eines Landes (bei amazon.de)
Taschen Verlag, Köln 2008
424 Seiten. Gebunden
ISBN-10: 383650569X
ISBN-13: 978-3836505697
39,99 Euro
Alle Fotografen und Fotografinnen:
Cai Shangxiong, Chen Changfen, Chen Ling, Ricky Chung, Cui Xinhua, Du Xiuxian, Feng Jianguo, Ge Xin , Gu Shoukang, Guo Gai, Guo Tieliu, Han Lei, He Yanguang, Hong Ke, Hou Bo, Hu Yang, Huang Yimin, Ji Lianbo, Jiang Jian, Jiang Shaowu, Jin Cheng, Kou Shanqin, Jason Lee, Lei Yu, Li Lang, Li Nan, Li Zhensheng, Liu Heung Shing, Liu Zheng, Lu Beifeng, Lu Guang, Lü Nan, Lü Xiangyou, Luo Xiaoyun, Meng Zhaorui, Peng Xiangjie, Qin Wen, Qiu Haiying, Qiu Yan, Ren Wen, Rong Rong & inri, Ru Suichu, Shi Xunfeng, Tang Desheng, Wang Fuchun, Wang Jie, Wang Jinsong, Wang Shilong, Wang Wenlan, Wang Jing, Wei Dezhong, Wei Ruoxun, Wen Jianping, Weng Naiqiang, Wu Jialin, Xiao Quan, Xiao Ye, Xiao Zhuang, Xie Guanghui, Xie Hailong, Xing Danwen, Xu Haifeng, Xu Xiaobing, Yang Shaoming, Yang Shizhong, Yang Yankang, Ying Fukan, Yong He, Yu Deshui, Yu Haibo, Yuan Kezhong, Zeng Nian, Zhang Dali, Zhang Peng, Zhang Xinmin, Zhang Yaxin, Zhao Qunying, Zheng Pingping, Zhou Cao, Zhou Chao, Zhou Yue, Zhu Yan und Zuo Jiazhong
Wenn das Buch …
[quote=Peschke]die ganze Geschichte des Landes seit 1949[/quote]
auf negative Aspekte reduziert, wie es der Rezensent tut, kann man es sich nicht mal schenken.
Was China in den letzten 60 Jahren geleistet hat, dürfte schwerlich mit Zwangsarbeitern zu machen gewesen sein, selbst mit Heerscharen nicht. Ein paar Chinesen scheinen Mao doch tatsächlich freiwillig unterstützt zu haben. Und auch nicht alle Tibeter waren unglücklich, als sie Anfang der 50er Jahre mit Maos Hilfe vom mittelalterlichen Schreckensregime der Gelbmützen-Mönche befreit wurden.
Mooooommennt mal!
[quote=Rumpelstilzken]
auf negative Aspekte reduziert, wie es der Rezensent tut, kann man es sich nicht mal schenken. Was China in den letzten 60 Jahren geleistet hat, dürfte schwerlich mit Zwangsarbeitern zu machen gewesen sein, selbst mit Heerscharen nicht. Ein paar Chinesen scheinen Mao doch tatsächlich freiwillig unterstützt zu haben. Und auch nicht alle Tibeter waren unglücklich, als sie Anfang der 50er Jahre mit Maos Hilfe vom mittelalterlichen Schreckensregime der Gelbmützen-Mönche befreit wurden.
[/quote]
Wenn jemand hier in Deutschland auf ähnliche Weise darauf pochen würde, dass man das Nazi- und/oder DDR-Regime nicht alleine auf die negativen Aspekte reduzieren dürfe, gäbe es ein Riesen-Aufschrei der Empörung. Schliesslich gibt es auch “ein paar” Deutsche, die Hitler bzw. die NSDAP und/oder Honecker bzw. die SED doch tatsächlich freiwillig unterstützt haben…
Damit will ich nicht sagen, dass ich irgendwelche Sympathien für das Nazi- oder DDR-Regime habe, aber gerade in Deutschland sollte man IMHO so sensibel sein, solche relativierenden Bemerkungen wie die Ihren gegenüber irgendwelchen Unrechtsregimes besser zu unterlassen!
Zum Thema Unglaubwürdigkeit
[quote=Gast]
Dabei ist es einfach lächerlich in der augenblicklichen Zeit, China so dermaßen herunterzuziehen, wo sich alle Welt nur angesichts des Wirtschaftswachstums dieses Landes die Augen reibt. Manchem westlichen land wären 10 Prozent davon schon genug!
Schlafen Sie weiter in Ihrer rosa Wolke! [/quote]
Niemand will hier “China so dermaßen herunterziehen”! Aber es ist IMO heuchlerisch bzw. höchst inkonsequent, auf der einen Seite einen kollektiven Schrei der Empörung auszustossen, wenn zum Beispiel eine Eva Hermann dem deutschen Erziehungssystem während der Nazi-Zeit auch positive Seiten abgewinnen kann, aber auf der anderen Seite von manchen Personen krampfhaft versucht wird, die menschenfeindlichen Aspekte des kommunistischen Regimes in China schönzureden bzw. zu relativieren.
Es ist nun mal eine Tatsache, dass in China nicht gerade das demokratischste Regime herrscht und Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung stehen. Das kann man nicht einfach so ausblenden bzw. so tun, als ob das nur “Nebensächlichkeiten” wären. Das Wirtschaftswachstum in China ist auch kritisch zu betrachten – geht es nämlich auch z.T. auf Kosten der Menschenrechte (und ganz “nebenbei” auch der Umwelt). Mag sein, dass China auf dem Weg der Besserung ist, aber so lange das kommunistische Regime dort noch herrscht, Menschenrechte verletzt und zum Beispiel Taiwan weiterhin als abtrünnige Provinz ansieht, sollten IMO noch viel mehr solcher Bilder gezeigt werden, damit auch jedem klar wird, dass das (wirtschaftliche) Wunderkind China nicht in jeder Hinsicht “der nette Junge von nebenan” ist…
Schwielen
Schwielen hätten die Jungs am Rücken, dicke Schwielen, würden Sie ein Schiff oder was anderes derart mit Seilen schleppen. Einfach eine blöde Fälschung. Zu doof zum fälschen! Da hätten Sie mit Sicherheit nicht Tücher auf dem Kopf, sondern unter den Seilen.
Bedauerlich, wie gutgläubig Sie sind, Herr WingFongVillie. Nahezu schon sträflich unkritisch.
Haben Sie sich eingentlich auch schon einmal überlegt:
AlKaida wird von China gesteuert. Ganz bestimmt. Muß, denn wo sonst soll der BinLaden hin sein, daß man ihn nicht findet. Nur im großen China kann sich so einer verstecken.
Glauben Sie mir, ich habe ihn da gesehen! Aber natürlich sage ich das nur Ihnen, weil ich so viel Respekt vor Ihrer hohen Intelligenz habe. Sie werden schon einen Weg finden, dem Bush davon unbemerkt Mitteilung zu machen. Wo? Na ganz klar: im chinesischen Volkskongreß. Reihe 7, Platz 8. Achten Sie mal drauf, ist ja bald wieder. Da sehen Sie ihn dann auch.
Beeindruckend – aber wirklich die “ganze” Geschichte?
Nachdem ich zitiert werde, melde ich mich dann doch gerne noch selbst zu Wort.
Vorweg: Sowohl das Foto, als auch der gezeigte Sachverhalt sind von geradezu erschreckender Nichtigkeit, betrachtet man die Gesamtspanne des Buches, das hier eigentlich diskutiert wird. Fakt ist: Es gibt die Treidler, und Sie sind fast nackt, aber nicht wie in einem Kommentar quasi gefordert, “schwielenübersäht”. Dass sie nackt sind, hängt zwar auch mit der wenigen Kleidung zusammen, die sie haben, primär aber damit, dass die Treidler an verschiedenen Furten mit hoher Regelmäßigkeit nass werden, und dann Kleidung unangenehm wäre. Die Treidler sind ein Zeugnis der Tatsache, dass China nach wie vor eine Breite an Lebenswelten abdeckt, die aus mitteleuropäischer Sicht kaum zu begreifen ist.
Das Buch selbst ist meiner Meinung nach kein Portrait im umfassenden Sinne, sondern eine Aspekteschau.
Das entstehende Bild ist für mein Empfinden, zu düster, zu aggressiv, zu kalt. Höchst eindrucksvoll werden dabei die Folgen, um nicht zu sagen Auswüchse der politischen Wandlungen eingefangen. Ein verständlicher Fokus, nimmt man die Lebensgeschichte des Herausgebers.
So gut wie garnicht spiegelt das Buch in diesem Sinne die Lebensenergie und vor allen Dingen schier unbezwingbare Lebensfreude der chinesischen Bevölkerung wieder. Welches Volk sonst wäre durch diese Geschichte so gegangen, welches Volk sonst hätte ohne erneuten Krieg und Zerfall die Wende in die Öffnung zu Stande gebracht?
Wer selbst in China war, dem bietet das Buch Zeugnisse geschichtlicher Epochen, die für uns außer in Gesprächen mit Zeitzeugen bisher kaum greifbar waren – in diesem Sinne empfinde ich es als echten Schatz, ein großes Werk, ein Stück Vergangenheitsbewältigung.
Für den, der sich China von Außen nähert entsteht für meine Begriffe ein gefährlich abstoßendes Zerrbild. Man bekommt zwar eine Ahnung, was die aufmerksamen Augen in den wettergegerbten Gesichtern alter Chinesen alles gesehen haben – Dinge, die viele heute noch verzweifelt in Kammern des Schweigens schließen, weil sie nichtmals vor dem geistigen Auge noch einmal sehen wollen, was sie dereinst erlebt haben.
Aber man spürt für mich in diesem Buch zu wenig von der ungeheueren positiven Energie, die die Chinesen immer wieder aufstehen lässt, die es höchsten Würdenträgern erlaubt, in Bade- oder gar Unterhose aufzutreten, die Chinesen beim Karaoke so viel unverkrampfter singen lässt, die für sie aus jedem flachen Stein ein Bett werden lässt.
Meine Befürchtung: Wer viel Kontakt mit Chinesen hat, bei dem wird dieses Buch den Respekt steigern, bei solchen, bei denen der Kontakt fehlt, wird es eher Ängste schüren, vor diesem doch dann immer wieder so unbekannten Riesen.
Frieder Demmer