Ausschnitt aus einer Kopigraphie von Andrea Esswein„Kopigraphien“ nennt die 1969 in Germersheim geborene, in Wiesbaden lebende Künstlerin Andrea Esswein ihre ungewöhnlichen, seit 1998 entstehenden Arbeiten. Im Jahr 2008 erhielt sie eine Atelierförderung der Stadt Wiesbaden. Wir sprachen mit ihr:

 
 

Arbeit von Andrea Esswein

 

Arbeit von Andrea Esswein

photoscala: „Copy Art“, das ist eine seit den siebziger Jahren entstehende Kunstform, deren Bestreben es ist, die Ebenen der Reproduktion und der freien Schöpfung zu verbinden. Sie nennen Ihre Arbeiten „Kopigraphien“. Welche Bedeutung hat dieser Begriff für Sie?

Potraitfoto Andrea Esswein

Andrea Esswein: Der Begriff „Kopigraphie“ beschreibt eher meine Arbeitsweise als der Begriff „Copy Art“. „Kopigraphie“ ist näher am Begriff „Fotografie“ und „-graphie“ deutet auf das Wort „Grafik“ hin: Meine Arbeiten sehen sehr grafisch aus. Keiner denkt bei meinen Arbeiten an Kopien. Das wird jedes mal deutlich, wenn mich Besucher während meiner Ausstellung fragen, ob die Bilder Fotos oder Zeichnungen sind.

photoscala: Es gibt eine lange Tradition der Kunst mit dem Kopiergerät. Joseph Beuys ist einer der ersten Künstler, der in Deutschland mit einem Kopierer gearbeitet hat. Timm Ulrichs, Anna und Bernhard Blume, Sigmar Polke, Emmett Williams, Markus Oehlen, Walter Dahn oder auch Martin Kippenberger haben sich in bestimmten Phasen ihrer Arbeit mit der Copy Art beschäftigt. Diese Traditionen gibt es, dennoch arbeiten heute nur ganz wenige Künstler in diesem Bereich. Welche Gründe könnte es dafür geben?

Andrea Esswein: Das kann ich nur vermuten: Wahrscheinlich haben die Künstler das Interesse daran verloren. Aber eigentlich müssen Sie, so weit sie noch leben, die Künstler selbst fragen.

photoscala: Kunst mit dem Kopierer ist eigentlich paradox. Der Kopierer hat ja die Aufgabe, eine Vorlage möglichst getreu wiederzugeben. Sie hingegen arbeiten gegen diese Möglichkeit. Es geht nicht um Wiedergabe, sondern Neuschöpfung …

Andrea Esswein: Geht es in der Kunst nicht immer um Neuschöpfung? Prinzipiell ist es egal, mit welchem Medium ein Bild entsteht: ob es gemalt, fotografiert oder gezeichnet wird. Kein Medium ist per se künstlerisch. Erst durch die Art und Weise des Gebrauchs kann es durch einen intensiven Prozess einen künstlerischen Status erreichen. Wichtig ist das Bild selbst: der Inhalt. Und letztendlich geht es doch um seine Ausstrahlung.

photoscala: Lassen Sie uns über Ihre Sujets sprechen. Sie legen Gegenstände, Tiere und Menschen, gerne auch sich selbst, auf die Glasscheibe eines Kopiergerätes. Gemüse, Obst, Stoffe, Hände, das Gesicht. Aus den einzelnen, beschnittenen Kopien fertigen sie große Collagen, Originale, grafische Unikate. Das ist spannend: Aus einer Technik, die eine billige Anmutung hat, machen Sie etwas Aufwändiges, Kostbares.

Andrea Esswein: Meine Sujets haben immer mit meiner unmittelbaren Umgebung, mit meinem Leben zu tun. Es ist meine Katze, die ich kopiert habe und es sind die Forellen auf dem Kopierer gewesen, die ich eine Stunde später in der Pfanne gebraten und gegessen habe.
 

Arbeit von Andrea Esswein

 
photoscala: Wichtig scheint Ihnen der Arbeitsprozess. Dieser soll immer sichtbar bleiben. Nie geht es darum, Nahtstellen zu kaschieren. Die einzelnen Bildfragmente bleiben sichtbar und verbinden sich doch zu etwas Neuem.

Arbeit von Andrea Esswein; Foto: Christian Lauer

Andrea Esswein: Der sichtbare Arbeitsprozess macht deutlich, dass das Bild konstruiert ist. Er ist der Nachweis, dass es diesen Gegenstand, den Menschen oder das Tier, in der Realität auf diese Weise nicht gab. Man könnte auch sagen: Ich konstruiere meine eigene Realität. Wie Puzzlestücke werden rechtwinklige Fragmente neu zu einem Ganzen collagiert. So spiele ich mit den Sehgewohnheiten des Betrachters und irritiere ihn in dem Moment, in dem er glaubt, das Bild ganz erfasst zu haben.

photoscala: Sie arbeiten nicht nur auf dem Feld der Fotokopie, sondern haben auch andere, fotografische Bildserien geschaffen wie „Frl. Schmid“ oder „Ein anderer Alltag“ – ein Portrait-Projekt für den Sozialdienst katholischer Frauen und Männer. Außerdem haben Sie immer wieder als Portrait- und Produktionsfotografin für Performance- und Theaterprojekte gearbeitet. In welchem Verhältnis stehen diese Werke zu Ihren Kopigraphien?

Andrea Esswein: Thematisch entspringen alle Arbeiten einer Quelle: der Auseinandersetzung mit inneren Befindlichkeiten und Zuständen. Man könnte dabei auch von einem psychologischen Moment sprechen.

photoscala: Zum Beispiel?

Andrea Esswein: Bei den Kopigraphien meiner Serie „Freundeszeichen“ habe ich die Zuckerstücke mit den positiven und negativen Eigenschaften meiner Freunde bedrucken lassen. So etwas kann nur entstehen, wenn man zuvor viele Gespräche geführt hat und sich sehr nahe ist. Aber wer Woody Allens Film „Harry außer sich“ gesehen hat, der weiß, welche Gefahren damit verbunden sind, Freunde zum Thema der eigenen Arbeit zu machen … Oder auch die aktuelle Serie „Brautkleider“. Dafür kaufte ich in Second-Hand-Läden Brautkleider, von denen jedes für einen Traum stand. Als Kopigraphie verändern diese Brautkleider plötzlich ihre Wirkung – und werden zu weißen Gespenstern, die geisterhaft und wie aus der Vergangenheit kommend im schwarzen Raum schweben. Vordergründig schön anzusehen. Aber der Traum, der ihnen anhaftet, ist ein verlorener Traum: nämlich der einer Frau, die sich für den „schönsten Tag ihres Lebens“ in unschuldiges Weiß gekleidet hat und auf eine glückliche Ehe hoffte. Und natürlich die Fotoserie „Frl. Schmid“. Eine schizophrene, demente Dame, die einen überraschenden Essay geschrieben hat. Der direkte Kontakt mir ihr und weiteren betreuten Menschen warf für mich viele Fragen von psychologischer und gesellschaftlicher Relevanz auf, denen ich nachgehen wollte. Und selbst bei meinen Tanzfotografien arbeite ich nur mit Performern, denen es nicht genügt, den Tanz zu feiern, sondern die damit innere Zustände ausdrücken wollen. Wie zum Beispiel Philipp Gehmacher mit seinem Stück „Incubator“. Darin erkenne ich den roten Faden in meiner Arbeit: Sie handelt von Dingen und Menschen, die aus meinem Leben und meinem Interesse stammen. Alle sind aus meinem Erlebnis-Umfeld. Ich suche die Aussage im Kleinen und habe das Gefühl, dass in diesem Kleinen schon ein Modell für die Welt draußen steckt.
 

Arbeit von Andrea Esswein

 
photoscala: Auch die von Ihnen schon angesprochene Serie „Fräulein Schmid“ hat mich sehr beeindruckt. Hier zeigen Sie eine pflegebedürftige Frau, die unter Schizophrenie leidet, in ihrer Wohnung in einem Hochhaus in Ludwigshafen. Jene Frau Schmidt hat einige Jahre zuvor ihre Gedanken niedergeschrieben, die in Textausschnitten Ihr fotografisches Werk begleiten. Was hat sie an den Gedanken der Frau fasziniert?

Andrea Esswein: Der Text hat mich in seiner Klarheit, Absurdität und Weisheit fasziniert. Er hat mich sehr berührt und einen dermaßen starken Zauber auf mich ausgeübt, dass ich Frl. Schmid kennen lernen und ihre Texte einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen wollte.

photoscala: Einer Ihrer Zyklen nennt sich „CopyDance“. Hier wurden Mitglieder des Mannheimer Balletts Ihre Kopiervorlage. Was war das Besondere an dieser Arbeit?
 

Arbeit von Andrea Esswein

 
Andrea Esswein: Ich hatte zuvor nur mich kopiert. Und „CopyDance“ war das erste Projekt mit anderen Menschen, sozusagen das erste Mal, das aus der künstlerischen Aktion eine Interaktion wurde. Ich wollte prüfen, ob sich Tänzer auf dem Kopierer besser oder mehr bewegen als ein normaler Mensch. Interessanterweise waren die Tänzer aber mehr mit der Sorge um ihre Wirkung beschäftigt, als mit dem Experiment selbst. Ich hatte mir unendlich viele Möglichkeiten an Posen vorgestellt, die man auf einem Kopierer einnehmen kann, wenn man extrem beweglich ist. Aber nur zwei Tänzer haben ihre Begabung genutzt. Bei der Collagierung der Arbeit habe ich zwar die statischen Posen beibehalten, aber einzelne Körperteile des jeweiligen Tänzers ausgetauscht, was eine neue, spannende Wirkung hervorrief.

photoscala: Thomas Schirmböck, der Leiter des Mannheimer „Zephyr – Raum für Fotografie“ hat geschrieben, Ihre Kunst überwinde „sowohl den Realismus als auch die technischen Aspekte des Kopiervorgangs“. Teilen Sie diese Einschätzung?

Foto von Andrea Esswein im Atelier

Andrea Esswein: Wenn Realismus hier für Wirklichkeit steht: ja. Denn durch die Nahtstellen und der daraus resultierenden kubistischen Anmutung breche ich den Wunsch nach realistischer Abbildung auf, für die ein Kopierer eigentlich eingesetzt wird. Durch die Collagierung und Versiegelung mit Lacken und Kunstharzen werden die Spuren des technischen Vorgangs zudem unkenntlich gemacht. Damit kann sich der Betrachter ganz auf den Inhalt und damit auf das Wesentliche, die Wirkung, konzentrieren.

photoscala: Welche Projekte und Ausstellungen planen Sie in den nächsten Monaten?

Andrea Esswein: Zurzeit beschäftige ich mich mit zwei Projekten. Zum einen arbeite ich an einer neuen Kopigraphie-Serie, die ich „Ribera-Zyklus“ nenne. Zum anderen beginne ich gerade ein Foto- und Filmprojekt zum Thema Anerkennung in der Kunst. Mit dem Goethe-Institut wandern meine Tanzfotografien im Juli nach Joinville in Brasilien zum internationalen Tanzfestival. Im Anschluss dann nach Casablanca, Kairo und Manila. Das Deutsche Rote Kreuz stellt „Frl. Schmid“ demnächst in Salzburg im Museum der Moderne und im Kunsthaus Graz aus. Und ganz aktuell ist für diesen Monat der Beginn einer Ausstellungstournee mit der Diakonie Hessen geplant.

Das Interview führte Marc Peschke.
 
 
Kontakt:
Andrea Esswein
Kunsthaus Wiesbaden
Schulberg 10
65183 Wiesbaden
Telefon 0179-105 36 59

Buch:
Andrea Esswein
Kopigraphien (bei amazon.de)
Text von Thomas Schirmböck
Gebunden. 48 Seiten. Deutsch/Englisch
Heidelberg 2001
ISBN 978-3-933257-58-1
20 Euro