Es ist vor allem Morbidität, die in der Chitpur Road im Norden Kalkuttas irritierenden Charme verströmt:

Kalkutta ist eine Stadt, die kaum zu fassen ist. Koloniale Prachtbauten wie das Victoria Memorial von 1921 erinnern an die Stellung der Metropole während des British Empire – Vorstädte mit Bürotürmen, Sitz von Callcentern und IT-Unternehmen, stehen dagegen für die rasante wirtschaftliche Entwicklung. Doch im Norden der Stadt, in der Chitpur Road etwa, ist davon nichts zu spüren. Es ist vor allem Morbidität, die hier irritierenden Charme verströmt.

Wie überall in Indien spielt sich das Leben auf der Straße ab. Bunte Märkte, Verkaufsstände, mobile Garküchen, Kleinbusse und Taxis, dazu die bröckelnden Fassaden der viktorianischen Ära. Eine bunte Welt, die bettelarm ist: Elend, Schmutz, wohin man blickt. 15 Millionen Bengalis leben offiziell in Kalkutta, das erst 300 Jahre alt ist und bis 1911 Hauptstadt der Kolonie Britisch-Indien war – inoffiziell sollen es aber doppelt so viele sein.

Die Kontraste Kalkuttas am Beispiel einer einzigen Straße, der Chitpur Road, die Würde der verblichenen Architektur, faszinierende Kulisse für Hektik, Armut und Chaos des Alltagsleben, all das kann man jetzt in einem Buch bestaunen. „Calcutta Chitpur Road Neigborhoods“ ist ein fotografischer Prachtband, der die Recherche des „Kolkata Heritage Photo Project“ zusammenfasst. Unter der Leitung von Professor Peter Bialobrzeski haben 21 Fotografie-Studenten der Bremer Kunsthochschule die im Verschwinden begriffene Pracht mit der Großbildkamera dokumentiert: Fabrikantenvillen des 19. Jahrhunderts, Paläste, die an die Macht des bengalischen Großbürgertum erinnern, das es heute nicht mehr gibt.

Es ist ein unvergleichliches Erbe, das hier vor allem aufgrund der furchtbaren Luftverschmutzung so rapide verfällt, verloren geht – und die Süddeutsche Zeitung hat wohl recht, wenn sie schreibt: „Hätte Kalkutta den Appeal von Havanna, es gäbe längst Coffee-Table-Books über die alten Paläste“. So ein Buch liegt nun vor, dass jedoch keine Architekturfotografie im strengen Sinn vorstellt: Stets sind die prächtigen, ruinösen Fassaden Kulisse für das Geschehen davor, für das aufregend lebendige, exotische Straßenleben, für das visuelle Gewimmel aus Stromkabeln, Reklameschildern, Kerosinlampen und den vielen Anbauten, die jeden Palast umlagern.

Fotos: Kolkata Heritage Photo Project

Was für die Studierenden bei der fotografischen Recherche zunächst ein Problem war, nämlich die individuelle Handschrift zu verleugnen und im „Gruppenstil“ zu fotografieren, erweist sich als adäquates Mittel, eine „einheitliche atmosphärische Architekturinterpretation“ zu gewährleisten, wie Bialobrzeski im Vorwort schreibt.

Entstanden ist eine sehr gelungene, sorgfältige Dokumentation der historischen Bausubstanz der Chitpur Road, die doch auch in fotografischer Hinsicht niemals langweilt. Ein wunderbares, ungemein detailreiches Fotobuch, in dem Pracht und Armut auf paradoxe Weise ganz eng beieinander liegen. Eine Hommage an eine Architektur, die – da sind sich die Denkmalschützer einig – nur noch wenige Jahrzehnte überleben wird.

(Marc Peschke)

Ausstellungen:
Willy-Brandt-Haus, Berlin 29.11.2007 – 27.1.2008
Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt/Main 8.2.-24.3.2008
CIMA, Kalkutta Mai / Juni 2008

Calcutta Chitpur Road Neighborhoods (bei amazon.de)
Hrsg. Peter Bialobrzeski
Vorwort von Peter Bialobrzeski
Text von Manish Chakraborti und Florian Hanig
Gebunden mit Schutzumschlag
144 Seiten. 74 farbige Abbildungen. 31 x 23,8 Zentimeter
Hatje Cantz Verlag 2007
Deutsch / Englisch
ISBN 978-3-7757-2106-6
€ 39,80 / CHF 69