Foto einer EistüteManchem Leica-Fan dürfte noch bekannt sein, dass Ernst Leitz vor Jahrzehnten eine Tochterfirma in Rockleigh, New Jersey hatte, die neben dem Vertrieb der in Deutschland und Kanada produzierten Kameras und Objektive mit dem Tiltall-Stativ auch ein eigenes, in den USA gefertigtes Produkt im Vertrieb hatte:

Die Geschichte des heute noch erhältlichen Tiltall-Stativs reicht aber noch weiter zurück. Sie beginnt im Jahre 1946 in einer erfinderischen aus Italien stammenden Einwandererfamilie, die ihren Lebensunterhalt mit Speiseeis verdiente.

Foto einer Eistüte

Italo Marchioni war gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus Italien ausgewandert und verkaufte selbst gemachtes Zitroneneis aus einem kleinen Verkaufswagen, den er durch die New Yorker Wall Street schob. Der Erfolg brachte es mit sich, dass auf der einen Seite aus einem einzelnen Verkaufswagen bald eine kleine Flotte wurde, auf der anderen Seite jedoch der tägliche Schwund der kleinen Glasschälchen, in denen er sein Eis verkaufte, das Geschäftsmodell zusehends gefährdete. Die in der Folge entwickelten kleinen Papierhörnchen reduzierten zwar seinen täglichen Verlust, brachten aber ein zunehmendes Abfallproblem mit sich. So wurden die Hörnchen bald aus Waffelteig gebacken und die Kunden übernahmen verzehrend die Abfallentsorgung gleich mit. Am 22 September 1903 meldete Italo Marchioni seine Erfindung im Staat New York zum Patent an, das am 15. Dezember des gleichen Jahres unter der U.S. Patent No. 746971 veröffentlicht wurde.

Während sich das Eisgeschäft prächtig entwickelte, entdeckten die beiden Söhne Caesar und Mark Marchioni zunehmend neue Interessensgebiete, denen sie sich in ihrer Freizeit widmeten. Caesar begann zu photographieren und Mark befasste sich mit Industriedesign. Diese Nebenbeschäftigungen sollten den beiden nützlich werden, als sich der Eisabsatz in Folge der Wirtschaftskrise abschwächte und sie nach neuen Märkten Ausschau halten mussten.

Foto Tiiltall

Bei seiner zunehmenden Beschäftigung mit der Photographie war Caesar mit seinem eigentlich sehr stabilen Stativ immer mehr unzufrieden. Es war schwer und was ihm fehlte, war ein Stativkopf, mit dem er seine Kamera genau ausrichten konnte. So begannen die beiden Brüder einen eigenen Stativkopf auszutüfteln, der es ermöglichte, die damaligen Kameras auf einem Stativ weitgehend nach Wunsch zu verschwenken. Nachdem sie eine brauchbare Lösung gefunden hatten, nahmen sie ihre Ersparnisse, investierten in eine kleine Werkstatt und begannen ihre Eigenentwicklung zu produzieren.

Zwar konnten sie mit ihrem Produkt während der Wirtschaftskrise keine Absatzrekorde brechen, aber sie fanden ihr Auskommen und konnten ihre kleine Fertigung in bescheidenem Umfang ausbauen – bis der Zweite Weltkrieg ausbrach und Materialmangel den Betrieb still legte. Zur Überbrückung übernahmen die Brüder während der Kriegszeit Aufträge zur Fertigung von Präzisionswerkzeugen für Unternehmen des Bendix-Konzerns.

Nach dem Krieg entschieden sich die Marchioni-Brüder, zu ihrem Stativkopf ein vollständiges Stativ zu entwickeln und zu fertigen. Da sie sich mit der Metallverarbeitung auskannten, setzten sie auf ein Metallstativ, das dauerhafter als die damals üblichen Holzstative und stabiler als die zeitgenössischen Metallvarianten sein sollte. Das Stativ sollte stabil und dennoch leicht sein und die Möglichkeiten des vorhandenen Kopfes weiter verbessern. Nach umfangreichen Entwicklungsarbeiten erblickte 1946 das erste Tiltall-Stativ das Licht der Welt.

Foto eines Tiltall von Leitz

In den folgenden 27 Jahren produzierten die Marchionis ihre Stative nur in einem Umfang, der es ihnen ermöglichte, die Qualitätssicherung für ihre Produkte zuverlässig selbst zu übernehmen. Auf diese Weise konnten sie massenweise Lob von ihren Kunden einheimsen und durch den guten Ruf der Stative auf Werbung weitgehend verzichten. Die Berichte zufriedener Kunden sorgten für eine stetige Nachfrage mit der die Produktion kaum mithalten konnte.

Im Jahre 1973 sprach Gene Anderegg von E. Leitz, Inc., in Rockleigh, New Jersey, der die Tiltall-Stative schon seit vielen Jahren kannte, die Marchioni-Brüder an, ob sie ihre Fertigung nicht an Leitz verkaufen wollten. Die Brüder fanden den Zeitpunkt passend, sich aus dem Geschäftsleben zurückzuziehen und sahen in E. Leitz einen passenden Nachfolger, der ihre so sorgfältig aufgebaute Produktion übernehmen konnte. So wurde in der Folge die Fertigung von Rutherford, New Jersey, nach Rockleigh, New Jersey verlagert, wo die Marchionis persönlich die Einarbeitung der Beschäftigten übernahmen, die ihre Stative in Zukunft herstellen sollten.

Foto Firmenschriftzug Tiltall von Leitz

E. Leitz führte die Fertigung der Tiltall-Stative in Rockleigh noch bis Anfang der 1980er Jahre fort. Mit der damals beginnenden Umstrukturierung des Leitz-Konzerns, die zu zahlreichen Übernahmen und darauf folgenden Unternehmensverkäufen führte, kam die Fertigung der Tiltall-Stative unter die Räder. Für eine derartige Nischenproduktion mechanisch-analoger Präzisionsteile hatte zum Zeitpunkt der beginnenden Digitalisierung im High-Tech-Land USA keiner der verantwortlichen Manager mehr Interesse und auch den europäischen Konzernlenkern war diese Produktlinie offensichtlich zu exotisch und wenig Rendite versprechend.

So wurden die Tiltall-Stative an Star D weiterverkauft. Star D hatte schon zuvor einen Tiltall-Nachbau unter eigenem Namen im Programm und konnte von nun an neben der Kopie auch das Original aus eigener Produktion anbieten. Star D gelangte damals in den Einflussbereich von Fred Albu, der von New Jersey aus mit einem Ein-Mann-Importunternehmen auch Objektive der Marke Albinar (heute auf die deutsche Firma Hapa-Team registriert) vertrieb und dem neben dem Camera Barn, einem großen Photogeschäft in New York, das Vertriebsunternehmen Uniphot-Levit gehörte. Uniphot war damals der US-Importeur für Hoya-Produkte und trat auch als Vertrieb für die Tiltall-Stative auf.

Nachdem Uniphot seine Geschäftstätigkeit aufgegeben hatte, wurden die Reste der Tiltall-Stative, das waren noch vorhandene Werkzeuge und Konstruktionszeichnungen sowie das Markenzeichen, an einen Hersteller aus Taiwan verkauft. Gegen Ende der 1990er Jahre begann Omicron Electronics, Inc. aus Chatsworth in Kalifornien mit dem Vertrieb von Tiltall-Stativen in den USA. Nach der Jahrhundertwende wurden die Tiltall-Stative in den USA über die B. Osrin Ltd. in Mount Sinai, NY vermarktet.

Foto des Tiltall in gold

Mit der Verlagerung der Fertigung nach China wurden zahlreiche Detailänderungen am Stativ und am Kopf vorgenommen. So wurden die Gewindesteigungen verändert, so dass bei gleichem Durchmesser neue Ersatzteile nicht mehr an alten Stative passen. Auch wurden Gewinde, die zuvor in Messingbuchsen angelegt waren, direkt in den Aluminiumkörper geschnitten, was der Haltbarkeit eher abträglich ist. Andere Details, wie die Gummikappen der Stativbeine, wurden jedoch gegenüber der ursprünglichen Version verbessert, da inzwischen auch bessere Materialien verfügbar sind.

Der heutige Eigentümer des Designs und der Markenrechte am Namen Tiltall ist Oliver Yang aus Taipeh, Taiwan, mit seiner Firma King Home. Das im Jahre 1968 gegründete Unternehmen King Home Enterprise Co., Ltd., kommt aus der Metallverarbeitung und produziert vorwiegend Kamera- und Beleuchtungsstative sowie Ladenregale. Während der Sitz des Unternehmens sich heute noch in Taipeh, Taiwan, befindet, wurde die Fertigung 1997 nach Zhongshan in der chinesischen Provinz Guangdong verlagert. Inzwischen werden von King Home auch Stative grundsätzlich anderer Bauart unter dem Namen Tiltall angeboten. In der originalen Bauform nach den Gebrüdern Marchioni findet sich im Online-Angebot derzeit nur eine Gold-Version, die wohl eher für das Regal als für die tägliche Arbeit gedacht ist. Es werden jedoch auch die schwarzen und silberfarbenen Versionen produziert.

In den USA wird das Tiltall-Stativ in eloxiertem Aluminium oder schwarz lackiert heute für knapp unter 100 US Dollar angeboten. Die grundsolide Konstruktion des Stativs und seines 2-Wege-Kopfes machen das Tiltall auch heute, 60 Jahre nach Produktionsbeginn, zu einem Werkzeug von hohem Gebrauchsnutzen. Wünschenswert für eine aktuelle, auch in Europa verfügbare Version, wäre allerdings die Rückkehr zu einer etwas solideren Fertigung, weniger Gold, und vor allem eine so rigide und nachvollziehbare Qualitätssicherung wie sie die Marchioni-Brüder noch kannten.

(CJ)
 

Tiltall Katalogausriss