Im Interview spricht Alan Schaller über Straßenfotografie, Schwarz-Weiß-Fotografie und sein aktuelles Buch „Metropolis“. Und über die monochromen Stadtlandschaften, die er einfängt und wie sie das Gefühl der Verlorenheit in der modernen Welt hervorrufen.
Alan Schallers Weg zur Fotografie begann, als er noch eine Karriere als Musikproduzent anstrebte. Er entschied sich jedoch für den Ausdruck seiner kreativen Vision durch das Objektiv der Kamera und nicht durch das Mischpult. Mit einem feinen Gespür für Licht und Komposition und einem scharfen Auge für flüchtige Momente etablierte sich Schaller schnell in der Branche. Er begann mit einer Serie von Bildern, die er in der Londoner U-Bahn aufnahm. Danach fotografierte er Menschen auf den Straßen in Städten wie New York und Tokio. Schaller ist einer der Mitbegründer des Street Photography International Collective (SPi). Er setzt sich für die Förderung von talentierten und unbekannten Fotografen ein. Durch seine Tutorials auf Youtube, die einen Einblick in verschiedene Techniken geben, teilt er sein Wissen gerne mit anderen. Um herauszufinden, wie man den perfekten Moment einfängt, haben wir uns mit ihm getroffen. Außerdem sprachen wir über die Inspiration für sein neues Buch Metropolis, das bei teNeues erschienen ist. Darin verwendet Schaller minimalistische Bilder städtischer Architektur, um das Gefühl der Isolation und Verlorenheit in der modernen Welt zu visualisieren.

New York, 2018: Die anonyme Silhouette einer Person wird zu einem integralen Bestandteil der Umgebung, die durch Licht, Schatten und geometrische Elemente geprägt ist. Foto: Alan Schaller
Interview mit Allen Schaller über Metropolis
Die Straßenfotografie gilt als ein unberechenbares Genre. Wie unberechenbar ist sie Ihrer Meinung nach?
Ja, sie ist unvorhersehbar – aber ich denke, je mehr Erfahrung man hat, desto mehr kann man versuchen, nicht unbedingt vorherzusagen, aber zu erahnen, was passieren könnte. Es gibt Faktoren, die ich kontrollieren kann, zum Beispiel die Position, die ich einnehme, um die Szene einzufangen. Ich stelle mir immer die Frage, was passieren könnte oder was ich gerne sehen würde. Im Laufe meiner Karriere habe ich gelernt, was ich will und was nicht. Das hilft mir, den Zufall zu reduzieren, und gibt mir eine bessere Chance, ein anständiges Bild und eine gewisse Konsistenz zu erreichen. Stellen wir uns zum Beispiel vor, wir sind in der Londoner U-Bahn, da ist eine schöne Treppe, die Beleuchtung ist perfekt. Ich stehe dort und warte darauf, dass jemand die Bühne betritt. Wenn die Wand weiß ist, warte ich auf eine Person, die dunkel gekleidet ist. Wenn die Wand dunkel ist, warte ich auf eine Person, die hell gekleidet ist.

Singapur, 2019: Der negative Raum schafft einen Kontrast zwischen den Menschen und ihrer Umgebung und unterstreicht das Gefühl der städtischen Isolation. Foto: Alan Schaller
Haben Sie schon einmal einen Moment verpasst? Oder haben Sie die Kamera immer dabei?
Früher habe ich immer gescherzt, dass die einzigen Orte, an die ich nicht mit der Kamera gehen würde, das Meer oder die Dusche sind. Jetzt habe ich eine wasserdichte Kamera. Manchmal verlasse ich das Haus mit der Kamera, aber ohne die Absicht zu fotografieren – und fange dann doch Momente ein. Für mich ist das keine Last, ich liebe es. Ich bin froh, dass ich das zu meinem Beruf gemacht habe. Hätte ich das nicht, würde ich trotzdem nach diesen Momenten Ausschau halten. Wenn ich mit Leuten unterwegs bin, die keine Fotografen sind, ist das etwas anders. Ich habe immer ein Kindle in meiner Tasche, damit sie etwas zu tun haben, während ich weg bin, und um ihnen zu zeigen, dass ich an sie gedacht habe. Meine Kamera ist immer dabei, immer eingeschaltet – sie ist nicht nur Show. Ich fokussiere auf ein bis zwei Meter. Zuerst scanne ich die Szene und dann mache ich etwas, das ich „fischen“ nenne. Ich werfe die Leine aus und warte auf den großen Fisch, während ein Jäger auf der Pirsch wäre.
Was sind die Dinge, die Ihren fotografischen Instinkt wecken?
Als ich jünger war, hatte ich eine Verabredung, und die Dame war nicht sehr glücklich mit mir, weil ich von dem Tisch neben uns besessen war. Er war interessant. Die Beleuchtung war sehr schön. Ich glaube, ich nehme alles wahr, was um mich herum passiert. Es ist schwer zu erklären. Aber sobald ich etwas sehe, bin ich fokussiert und treibe mich an. Ich fotografiere viel mit Alltagsgegenständen, also gibt es viele Dinge, die mich innehalten lassen und mir sagen: Hier ist ein Foto. Die Umgebung auf diese Weise zu beobachten und zu analysieren, halte ich für eine Fähigkeit. Als ich mich jetzt mit Modefotografie beschäftigte, wurde mir das klar. Manchmal ist es aber auch ein bisschen seltsam, was mich zum Drücken des Auslösers bewegt. Als ich in Indien war, besuchten wir einen spektakulären Tempel. Aber die besten Szenen habe ich auf dem Hin- und Rückweg eingefangen. Es sind die unerwarteten Momente, die kleinen Augenblicke, die passieren. So war es auch in Paris auf dem Eiffelturm. Ich stand an einem Hotspot, von dem aus alle den Turm fotografierten. Ich habe mich umgedreht, und da war eine Treppe. Also habe ich dieses Foto gemacht. Es hat nichts mit dem Eiffelturm zu tun. Aber es ist mein Lieblingsfoto, das ich dort gemacht habe.

London, 2016: Eines der ersten Projekte von Schaller war eine Serie über die Tunnel der Londoner U-Bahn. Foto: Alan Schaller
Welche Kamera war Ihre erste?
Eine meiner ersten Kameras war eine Canon 70D. Sie war preiswert, hatte jedoch zu viele Funktionen. Dann habe ich mich für eine Leica entschieden – für mich ist das die ultimative Kameramarke. Ich interessiere mich für Dinge, die gut gemacht sind. Damals konnte mir zwar keine leisten, aber ich habe es geschafft, genug Geld aufzutreiben, um eine zu kaufen. Rückblickend eine verrückte Tat. Ich hatte gerade erst eine Hypothek aufgenommen und gab dann für ein Hobby etwa 9.000 Pfund für eine Kamera und ein Objektiv aus. Ich fühlte mich krank. Ein paar Tage lang öffnete ich die Schachtel nicht, um sie wieder zurückgeben zu können. Ich machte mir Sorgen, wollte mir das Geld zurückverdienen. Ich dachte, ich könnte bei ein paar Hochzeiten helfen – aber nicht daran, eine Karriere zu machen. Wie sich herausstellte, war das wahrscheinlich eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Danach ging alles sehr schnell, alles war organisch. Ich habe so viel wie möglich fotografiert, während ich immer noch Vollzeit in der Musikindustrie arbeitete. Ich kaufte mir eine Leica M Monochrom Typ246, dann eine M10 Monochrom, und jetzt arbeite ich mit der M11 Monochrom.

Seoul, 2019: Schaller benennt seine fotografischen Arbeiten bewusst nicht. So können sie unvoreingenommen betrachtet werden. Foto: Alan Schaller
Was ist das Beste am Fotografieren mit einer monochromen Kamera?
Ich habe mich an die stilvollen Aufnahmen der M gewöhnt. Ich bin mit meinen Monochromsensoren verwöhnt – Farbsensoren sind nicht wirklich etwas für mich, oder zumindest ist es ein Kampf. An diese Art des Fotografierens habe ich mich gewöhnt. Ich mag die Tonalität, den Schwarz-Weiß-Look, aber auch, dass die Spitzlichter beibehalten werden. Das ist sehr wichtig, weil ich häufig mit Gegenlicht fotografiere. So habe ich verschiedene Möglichkeiten, eine Szene zu belichten. Bei der Digitalfotografie muss man sich darauf einstellen und stark unterbelichten. Der Film reagiert anders. Wenn das Motiv von hinten beleuchtet ist, erhält man weniger Kontrast; und wenn eine Szene dazu passt, mache ich das. Das ist nicht notwendig, aber es sind Dinge, die ich berücksichtigen muss, um den gewünschten Look zu erzielen.

London, 2018: Eines der ersten Bilder, das Schaller zu seinem Buch Metropolis inspirierte, war dieses Foto aus der Tate mit dem Titel „Pest Control“. Foto: Alan Schaller
Ist es wichtig, mit der eigenen Ausrüstung in Harmonie zu sein?
Manche Leute meinen, die Kamera sei unwichtig, es gehe nur um den Fotografen – aber ich denke, das ist die falsche Sichtweise. Ja, ich kann meinen Look mit jeder Kamera einfangen, aber ich bevorzuge mein Set-up, weil ich es besser verstehe. Bei meinem 24-mm-Objektiv zum Beispiel weiß ich, welche Eigenschaften es hat, wann es streut und wann nicht. Und ich weiß, wie ich fokussieren muss, ohne darüber nachzudenken. Ich fotografiere jetzt seit etwa sechs Jahren mit dem 24 mm und dem 50 mm – und manchmal überraschen sie mich immer noch. Ich lerne immer noch dazu. Wenn man lernt, worauf es ankommt und sich mit seiner Ausrüstung anfreundet, kann man den entscheidenden Moment besser einfangen.
Welche visuellen Aspekte hatten Sie bei der Gestaltung der Bilder für Ihr Buch Metropolis im Sinn?
Es hat einen sehr kraftvollen Stil. Das Thema des Buchs ist die urbane Isolation, also habe ich Bilder gewählt, die dieses Gefühl und diese Atmosphäre ausdrücken. Ich wollte die Idee vermitteln, dass wir durch Dinge wie das Internet mehr denn je miteinander verbunden sind, aber gleichzeitig auch weniger. Vor allem Großstädte können sehr einsame Orte sein. Ich hatte das Gefühl, dass viele Menschen nachvollziehen können, wie es ist, an einem belebten Ort zu sein und sich ein- sam zu fühlen. Und dass jeder dieses Gefühl hat, aber so tut, als wäre es in Ordnung. Ich habe hundert kleine Bilder ausgedruckt und in einen Schuhkarton gepackt. Ich legte sie alle auf den Boden, schaute sie an und gruppierte sie. Eine dieser Gruppen bestand schließlich aus fünf Bildern, die im Laufe eines Jahres entstanden waren und viele schwarze Negativflächen aufwiesen. Ich hatte sie nicht absichtlich so aufgenommen, es war nur eine Idee, also hängte ich sie auf und dachte: „Gut, ich werde versuchen, noch fünf weitere zu machen“, so ging es weiter. Ein Freund kam vorbei, und ich fragte ihn, was er davon halte. Er sagte, diese Bilder sehen aus, als wären die Menschen winzig im Vergleich zu der Welt, die sie umgibt. Als würden sie von der Architektur erdrückt. Ich wusste: Das ist es! Ich hatte das Gefühl, mich mit dem Thema identifizieren zu können.

Budapest, 2018: Schaller hat den Schwerpunkt seiner Arbeit von Gesichtern und Menschen verlagert auf die Art und Weise, wie seine Motive in der städtischen Umgebung funktionieren. Foto: Alan Schaller
Wie stark waren Sie am Layout des Buchs beteiligt?
Das Buch wurde auf besondere Weise gestaltet und zusammengestellt. Wir haben in dem ganzen Buch eine Abstufung der Farbtöne vorgenommen. Am Anfang die dunkelsten Bilder, am Ende die hellsten Bilder und in der Mitte ist es irgendwie Grau. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht viel darüber, wie man Bücher macht, aber ich lerne. Es gibt so viel über Fotografie zu lernen, über Ausstellungen, darüber, das richtige Papier zu wählen, aber auch über das Geschäftliche, über Lizenzen, Verträge und vieles mehr. Ich liebe diesen nie endenden Prozess.
Haben Sie Tipps für Fotografen, die gerade an einer Serie oder an einem eigenen Buch arbeiten?
Es ist wichtig, ein Thema zu haben, auf das man sich beziehen kann. Ich denke, Fotografen machen oft Arbeiten für andere Fotografen. Sie sagen dann: „Seht euch die Silhouette an, die ich eingefangen habe“, aber die durchschnittliche Person wird sich nicht für diese Silhouette interessieren. Wenn man aber eine Silhouette benutzt, um eine Geschichte zu erzählen, die für den Betrachter interessant ist, kann er die Technik verstehen und schätzen. Es gibt ein Sprichwort, das besagt, dass ein Bild mehr sagen kann als Tausend Worte, und ich mag die Tatsache, dass man nicht immer alles verstehen muss. Obwohl viele Bilder in diesem Buch mit einem fotojournalistischen Ansatz oder mit der Absicht, eine Geschichte zu erzählen, aufgenommen wurden, sprechen sie für sich selbst. Hoffentlich ist es eine Arbeit, auf die ich in 50 Jahren zurückblicken und sagen kann: Ja, so habe ich mich damals gefühlt. Aber vielleicht mache ich das nächste Mal etwas Fröhlicheres.

Ascot, 2019: Sowohl in der Mitte als auch in der Ähnlichkeit der beiden dargestellten Personen liegt hier die Symmetrie in der Aufnahme. Foto: Alan Schaller

Über den Fotografen Alan Schaller
Alan Schaller ist ein in London lebender Fotograf, der sich auf Schwarz-Weiß-Fotografie spezialisiert hat. Seine Arbeiten sind bekannt für ihre surrealen, geometrischen und kontrastreichen Elemente, während sie gleichzeitig die Realitäten und die Vielfalt des menschlichen Lebens erforschen. Schaller ist Mitbegründer des Street Photography International Collective (SPi) und Botschafter für Leica-Kameras. Seine Arbeiten wurden international veröffentlicht und ausgestellt. Zu seinen Kunden gehören bekannte Marken wie Apple, Nokia, Huawei und Philips. Neben seiner Tätigkeit als Fotograf schreibt Schaller auch Artikel für The Independent.
Weitere Informationen auf seiner Webseite http://alanschaller.com/ und auf Instagram: @alan_schaller
Buch-Tipp Metropolis
Das Buch Metropolis erhebt Stadtansichten zu einer Kunstform und spielt mit Licht und Perspektive. Es enthält 150 Schwarz-Weiß- Bilder aus einigen der bekanntesten Städte der Welt.
Verlag teNeues www.teneues.com
Preis: 85 Euro, 240 Seiten, 27,5 x 34 cm.
