Die freiberufliche Fotografin Marjorie Becker ist die offizielle Fotografin des Social Media Projekts und des Buches „Accidentally Wes Anderson“ (AWA). Im großen Profi-Interview sprachen wir mit ihr über das Buch, Wes Anderson und die Bildsprache.
Die Filme des Regisseurs Wes Anderson bestechen vor allem durch eines: ihre einzigartige, unverkennbare Bildsprache. Ungewöhnliche, überraschende, teils bizarre Szenerien – häufig symmetrisch, mit weichen Pastelltönen oder kraftvollen Mustern und immer perfekt durchkomponiert. Eine ganz besondere Ästhetik, die Millionen Fans lieben. Und zwar so sehr, dass sie sich weltweit auf die Suche begeben und Orte aufspüren, die aussehen, als seien sie einem Wes-Anderson-Film entsprungen – accidentally Wes Anderson eben. @accidentallywesanderson ist eine rasant wachsende Community, die überall auf der Welt Orte ausfindig macht, die der Bildästhetik des legendären Filmemachers entsprechen, und diese bei Instagram teilt. Zum gleichnamigen Buch reiste und fotografierte Marjorie Becker als offizielle Fotografin. Wir sprachen mit ihr über das Buch, Wes Anderson und Bildsprache.
Interview mit Marjorie Becker über AWA
Was bedeutet es, Chief Adventure Photographer von Accidentally Wes Anderson zu sein?
Hauptsächlich begleite ich Wally, Amanda und das Team auf Abenteuern. Wir reisen zu bestimmten Orten, oft in Zusammenarbeit mit Kunden oder Sponsoren, um diese Art von Bildern zu erstellen. Es steckt viel Recherche dahinter – wir prüfen, welche Orte für unsere Community interessant sein könnten. Meine Hauptaufgabe besteht darin, die Fotoinhalte zu erstellen. Einige Teammitglieder konzentrieren sich stärker auf Video-Inhalte, aber meine Priorität liegt auf Bildern, die für Bücher, die Website oder vielleicht sogar für eine Galerie gedacht sind. Wenn es dann um die Nachbearbeitung geht – sei es ein kleiner Feinschliff oder ein kreativer Zuschnitt–verlassen sich Wally und Amanda auf meine Perspektive.
Wie sind Sie Teil des Teams geworden?
2020 suchten sie jemanden, der bei der Vorbereitung der Bilder für den Druck hilft. Über einen gemeinsamen Kontakt wurde ich als Fotografin in New York empfohlen und gefragt, ob ich Interesse hätte. Zu der Zeit hatte ich wenig andere Aufträge, also war es eine großartige Gelegenheit, in diesem Bereich weiterzumachen. Ich arbeitete an vielen Bildern für das erste Buch und wurde später eingeladen, an einer Abenteuerreise teilzunehmen, um Inhalte zu erstellen. Wally und Amanda sind fantastische Kuratoren, aber keine Fotografen. So wurde ich Teil des Teams – und die Reisen wurden immer mehr. Ich habe einen BSc in Fotografie, wusste aber lange nicht, welche Art von Fotografin ich sein wollte. Ich habe in der kommerziellen Fotografie, Immobilienfotografie, bei Live-Musik und Events gearbeitet. Diese Erfahrungen halfen mir, spontan und schnell zu arbeiten.

TWA Hotel, Queens, New York, von Marjorie Becker. Foto: Marjorie Becker
Wie definieren Sie das Wes-Anderson- Element in der Bildgestaltung, das so viele Menschen inspiriert?
Ich denke nicht, dass es eine einzige Zutat gibt, die Wes Andersons Stil definiert. Viele würden ihn durch symmetrische Bilder oder eine bestimmte Farbpalette beschreiben, aber ich finde, das wird seiner Arbeit–und auch den Accidentally Wes Anderson-Bildern – nicht ganz gerecht. Natürlich sind diese Elemente in vielen Bildern zu finden, aber sie machen nicht alles aus. Typischerweise erzählt ein Bild eine Geschichte oder hat eine skurrile, verspielte Komponente. Wes Andersons Filme sind nicht nur wegen ihrer Handlung besonders, sondern auch wegen der visuellen Welten, die er erschafft. Seine Sets, die architektonischen Elemente, die Beleuchtung, die Farbgestaltung und sogar die Art, wie er Szenen inszeniert – mal mit großzügigen, offenen Räumen, mal klein und intim wie in einem Aufzug – tragen dazu bei. Er inszeniert Szenen fast wie ein Theaterstück, und selbst die Kamerabewegungen und der Schnitt erzählen Geschichten mit einem Hauch von Theatralik. Ich denke, die Wes-Anderson-„Zutat“ ist eine Kombination aus all diesen Elementen. Vielleicht merken Sie es, aber ich bin ein riesiger Wes-Anderson-Fan und war es schon lange, bevor ich bei AWA mitmachte. Ich habe mich in seine Arbeit verliebt, als ich Anfang der 2000er Die Royal Tenenbaums gesehen habe – und es ist bis heute mein Lieblingsfilm.
Warum hat Accidentally Wes Anderson so viele Menschen begeistert?
Die von AWA kuratierten Bilder sind ohne Zweifel ein visueller Genuss, aber sie wecken auch ein Gefühl von Abenteuerlust, Verspieltheit und Eskapismus. Besonders faszinierend finde ich, dass diese Orte real sind und dennoch in ihrer Darstellung oft filmisch oder traumhaft wirken. Die Tatsache, dass jeder eigene Bilder oder Geschichten einreichen kann, macht AWA nicht nur zugänglich, sondern schafft auch eine Gemeinschaft, die sich um die Schönheit der Wes-Anderson-Ästhetik und die Tradition des Storytellings versammelt. Ein Aspekt, den ich besonders liebe, sind die Kommentare auf Instagram. Obwohl ich selbst keine große Schreiberin bin, finde ich die Interaktionen der Community mit AWA und untereinander unglaublich unterhaltsam und charmant. AWA hat eine Kultur geschaffen, die Freude inspiriert und die Menschen gegenseitig unterstützt.
Geht es nur um die Optik oder auch um ein Gefühl?
Manchmal geht es um Farben oder eine bestimmte Farbkombination, manchmal um Muster oder eine schöne Architektur, die durch Wiederholungen oder Symmetrie hervorsticht – aber die Geschichte dahinter ist ebenso wichtig. Wenn ein Bild einige dieser Wes-Anderson-Elemente besitzt und gleichzeitig eine Geschichte oder eine interessante Anekdote erzählt, dann, denke ich, liegt genau darin das „Geheimrezept“ eines Accidentally Wes Anderson-Bilds.

Hughes Hall, Fordham University, New York City, von Joe Byrnes. Foto: Joe Byrnes
Wie finden Sie das Außergewöhnliche im Alltäglichen?
Auf unseren Reisen haben wir einen engen, minutiös geplanten Zeitplan. Es bleibt wenig Spielraum, deshalb steckt viel Recherche hinter jeder Location; wir haben schon eine Idee davon, was wir einfangen möchten. Meine Herangehensweise als Chief Adventure Photographer unterscheidet sich stark von der vieler anderer Fotografen im Buch. Ich weiß nicht, ob diese Fotografen ihre Bilder auf die gleiche Weise „jagen“, wie ich es bei meinen Aufträgen tue. Die Recherche gibt mir zumindest einen Ausgangspunkt, was an einem Ort möglich sein könnte. Aber es gibt immer unvorhersehbare Variablen wie das Wetter, Menschenmengen oder manchmal leider auch Einschränkungen. In solchen Fällen muss ich kreativ denken, um ein Bild zu schaffen, das die AWA-Ästhetik verkörpert. Andererseits entstehen viele meiner Lieblingsbilder zwischen den geplanten Auf- nahmen – wie das Riesenrad in Angoulême, Frankreich, oder an Orten, auf die ich mich nicht wirklich vorbereiten konnte. In der Schweiz hatten wir beispielsweise den Auftrag, verschiedene Transportsysteme zu fotografieren. Eines Tages bekamen wir die Sondergenehmigung, im Führerstand einer Zahnradbahn mitzufahren. Während die Passagiere noch einstiegen und der Zugführer draußen half, machte ich ein Bild des Steuerpults mit all den kleinen Hebeln, Knöpfen und Anzeigen. Dieses Bild gehört zu meinen Favoriten und ist direkt nach dem Vorwort des Buchs zu finden. Mein Ansatz ist eine Kombination aus gründlicher Recherche und Offenheit für das Unerwartete – ich lasse mein kreatives Auge einfach beobachten, was um mich herum passiert.
Welche Ihrer Fotografien aus Accidentally Wes Anderson Adventures gehören zu Ihren Favoriten – und warum?
Das sind zwei. Das erste Bild zeigt Schneeschuhwanderer (S. 338 im AWA-Buch), die über Des Moines Point in der Antarktis marschieren. Dieses Bild erzählt eine skurrile Geschichte – jeder der Schneeschuhwanderer hat seine eigene Persönlichkeit, fast wie in einem „Wo ist Walter?“-Comic (oder „Wo ist Wally?“ in Großbritannien, was lustig ist, da wir einen Wally im Team haben!). Der Gletscher hinter den Wanderern ragt wie ein Gebirge in die Höhe, und die weiten, weißen Schneeflächen oben und unten rahmen das Bild ein und verstärken das Gefühl einer menschenleeren, abenteuerlichen Welt. Dieses Bild betont den Geist des Abenteuers, während die Schneeschuhwanderer weitermarschieren. Das zweite Bild wurde in Angoulême aufgenommen, dem Drehort von Wes Andersons The French Dispatch [2021] (im AWA-Buch S. 207). Ich war begeistert, die tatsächlichen Schauplätze sehen zu können. Es zeigt ein großes, gelbes Riesenrad. Dieses Motiv war nicht auf unserer Shotlist und entstand ganz zufällig, als die Reisebeschränkungen während der Covid- Pandemie gelockert wurden. In Frankreich brauchte man damals einen QR-Code, der bestätigte, dass man in den letzten fünf Tagen getestet oder geimpft worden war, um irgendwo hineingehen zu können. Amanda und ich hatten unsere Impfnachweise, aber unsere QR- Codes funktionierten nicht, also mussten wir einen Covid-Test machen. Diese Tests waren fast unmöglich zu bekommen, da sie für Tage ausgebucht waren, aber wir kannten jemanden, der jemanden kannte, der uns testen konnte, wenn wir es in 15 Minuten zur Apotheke schafften. Wir rannten los, und kurz vor der Apotheke, die in einem Einkaufszentrum lag, sahen wir dieses riesige, gelbe Riesenrad im perfekten Licht. Wir mussten kurz stehen bleiben und es anschauen, aber gleichzeitig mussten wir dringend zum Test. Also holte ich schnell meine Kamera heraus, machte ein paar Schnappschüsse und rannte weiter. Wenn ich das Bild des Riesenrads heute sehe, erfüllt es mich mit Freude – und die chaotische, zufällige Entstehungsgeschichte bringt mich immer wieder zum Lachen.

Riesenrad in Angoulême, Frankreich, von M. Becker. Foto: Marjorie Becker
Und welche Fotos im Buch, die von anderen Fotografen aufgenommen wurden, gefallen Ihnen besonders?
Nummer eins ist das Bild der Hughes Hall an der Fordham University und wurde von Joe Byrnes aufgenommen (AWA-Buch Seite 45). Dieses Bild zeigt großartig die Technik des Layerings: Der Schnee häuft sich rechts neben den Zweigen, die von oben herabhängen, während das Gebäude sehr symmetrisch und flach vor einer dritten Ebene von verschneiten Bäumen im Hintergrund steht. Die Farbgestaltung ist überwiegend monochrom, abgesehen von den kontrastierenden warmen und kühlen Tönen der Tür und des Dachs. Für mich ist das ein perfektes Beispiel für ein klassisches AWA-Bild. Das zweite Bild zeigt Camp Wanda- Wega, aufgenommen von Nathan Bobey, und ist eine Weitwinkelaufnahme in einem kleinen Raum (AWA-Buch Seite 57). Diese Aufnahme erzeugt das Gefühl von Intimität, das oft in Wes Andersons Filmen zu finden ist. Häufig sind die Charaktere dort in engen Räumen wie Schränken oder Aufzügen, und dieses Bild fängt genau dieses Gefühl ein. Die grünen und dunklen Holztöne sowie die Tapete schaffen ein stimmiges Thema. Weitere Elemente im Bild – der Hut auf dem Stuhl, die Schreibmaschine, das Notizbuch, das Megafon, die Polaroid-Kamera, die Flasche und das kleine Radio auf der Fensterbank – erzählen eine Geschichte über den Charakter, der diesen Raum bewohnt. Es gibt so viel zu entdecken, und das Bild regt meine Fantasie immer wieder an. Das dritte Bild stammt von Amber Adey. Es trägt den Titel The Mousehole (AWA- Buch Seite 135). Für mich verkörpert dieses Foto pure Verspieltheit. Technisch ist es eher schlicht, und es zeigt einen Ort, den man leicht übersehen könnte. Aber ich liebe es, wie die Fotografin diesen Ort eingefangen hat – visuell an der Seite eines Hügels, wodurch die skurrile Typografie des Mousehole-Schildes hervorgehoben wird. Die Geschichte hinter diesem Bild ist herzerwärmend und wird im Buch am besten entfaltet. Das letzte Bild, das ich erwähnen möchte, ist The Deserts of Cairo von Jessica Kantak Bailey (AWA-Buch Seite 226). Dieses Bild verwendet nicht die Symmetrie, die oft die AWA-Ästhetik prägt, zeigt aber ein brillantes Layering: Das Kamel im Vordergrund, zwei weitere Kamele in der Ferne, die Pyramiden leicht versetzt und nicht zentriert, und die Stadt Kairo im Hintergrund. Das Kamel ist ein skurriler Charakter mit einem handdekorierten Geschirr und einem wissenden Blick. Wie könnte man nicht lächeln, wenn man dieses Bild betrachtet?

Deserts of Cairo von Jessica Kantak Bailey. Foto: Jessica Kantak Bailey
Machen die AWA-Abenteuer Spaß?
Sie machen unglaublich viel Spaß! Das Team hat eine sehr lockere, unbeschwerte Herangehensweise an alles – vor allem Wally und Amanda, die es lieben, spontan zu bleiben und sich treiben zu lassen. Wir sind alle ziemlich nerdig und geraten sofort in Begeisterung, wenn wir etwas Historisches oder Faszinierendes sehen. Wir lieben Fun Facts! Wenn wir zum Beispiel einen alten Briefkasten entdecken, sind wir völlig aus dem Häuschen – und diese Energie ist wirklich ansteckend.
Glauben Sie, dass AWA langfristig erfolgreich bleibt?
Ja, ich glaube, das wird so sein, weil es bei AWA um die Gemeinschaft geht. Es ist kein typischer Instagram-Account, bei dem der gesamte Inhalt von einem einzelnen Creator stammt. Hier steht die Community im Mittelpunkt, und die Möglichkeit, eigene Fotos einzureichen, ist immer offen. Man muss kein professioneller Fotograf sein – es geht nur darum, dass Menschen die Schönheit in der Welt sehen und teilen. Wes Andersons Ästhetik wird heutzutage immer bekannter und beliebter, und ich denke, sie spricht viele Menschen an, weil sie einfach so wunderschön ist. Im echten Leben auf etwas zu stoßen, das einen an diese Ästhetik erinnert, macht Freude – und genau diese positive Energie trägt AWA. Die Accidentally-Wes-Anderson-Community ist der Antrieb hinter allem. Sie hält das Ganze leicht und spielerisch, und manchmal ist das genau das, was wir brauchen.

Tourlitis-Leuchtturm, Andros, Griechenland, von George Bogdanis. Foto: George Bogdanis.
Haben Sie Wes Anderson jemals persönlich getroffen?
Nein, aber das wäre ein Traum, da ich schon ein großer Fan von ihm bin. Ich bin glücklich damit, ihn aus der Ferne zu bewundern – seine neuen Werke haben jetzt für mich eine noch tiefere Bedeutung. Er inspiriert mich auf eine ganz neue Art und Weise, da ich nun auch versuche, seine Ästhetik einzufangen, sie zu verinnerlichen und in meine eigene Arbeit einfließen zu lassen.
Auch wenn Accidentally Wes Anderson nur aus der Distanz mit Wes Anderson zu tun hat, hat er doch ein Vorwort zum Buch beigesteuert …
Ja, schließlich steht sein Name dahinter, also hat er das letzte Wort und gibt die finale Freigabe. Wally und Amanda haben immer betont, wie glücklich sie darüber sind, dass Wes wirklich mag, was sie mit diesem Projekt machen–das bedeutet ihnen enorm viel. Ich hoffe, dass wir eines Tages alle die Gelegenheit haben, Wes persönlich zu treffen. Bis dahin ist es allerdings eher eine Brieffreundschaft.

Marshrutka (Sammeltaxi) in Kiew, Ukraine, von Dimitri Bogachuk. Foto: Dimitri Bogachuk.
Fakten zum Buch „Accidentally Wes Anderson Adventures“
Autoren: Wally and Amanda Koval
Verlag: Dumont Verlag (ISBN 978-3-8321-9985-2),
Hardcover, 368 Seiten, 200 farbige Abbildungen
Preis: 30 Euro
www.dumont-buchverlag.de
Fakten zum Buch „Accidentally Wes Anderson Adventures“
- Autoren: Wally and Amanda Koval
- Verlag: Dumont Verlag (ISBN 978-3-8321-9985-2)
- Hardcover, 368 Seiten, 200 farbige Abbildungen
- Preis: 30 Euro
- www.dumont-buchverlag.de


Über die Fotografin Marjorie Becker
- Marjorie Becker ist freiberufliche Fotografin in New York City, spezialisiert auf Musik- und Eventfotografie.
- Seit 2020 arbeitet sie mit Wally und Amanda Koval an ihrem Projekt Accidentally Wes Anderson (AWA).
- Die Zusammenarbeit führte dazu, dass Becker zur Chief Adventure Photographer von AWA ernannt wurde.
- Das neue Buch von AWA enthält 61 ihrer Fotografien, zudem lieferte sie fachkundige Einblicke zu Bildern anderer Beitragender.