In dieser Ausgabe von Foto-Frisch stellen wir aktuelle Positionen abstrakter Fotokunst vor; laden den Leser ein zu einer Reise zu sich selbst. Denn, um mit Melanie Wiora zu sprechen: „Der Betrachter ist immer Teil des Bildes. Er ist bildschaffend. Er schafft sich sein eigenes Bild, das aus dem gesehenen Bild hervorgeht.“

Einige Jahrzehnte, bis ins Jahr 1916, brauchte die Fotografie, um zu sich selbst zu finden. In diesem Jahr publizierte der Amerikaner Alvin Langdon Coburn nämlich seinen Aufsatz „Die Zukunft der bildmäßigen Fotografie“, der zum ersten Mal Fotos als das betrachtet, was sie auch sind: nicht Symbol oder Bedeutungsträger, sondern schlichtes Objekt. Dieser fotohistorische Moment ist für Gottfried Jäger, den wichtigsten Theoretiker abstrakter Fotografie in Deutschland, der eigentliche Beginn jeder „Konkreten“ oder „Abstrakten“ Fotografie.

Abstrakte Fotografie hat inzwischen eine lange Geschichte. Die Fotogramme von Christian Schad oder László Moholy-Nagy – Zeichnungen des Lichts auf dem Fotopapier, Fotografien, die ohne Kamera entstanden sind – gehören zu den wichtigen frühen Beispielen abstrakter Fotokunst. Vor allem der Bauhauslehrer László Moholy-Nagy formulierte seine Vision einer abstrakten Fotografie schon im frühen 20. Jahrhundert: „malen ohne pigment nur mit reinem licht im grenzbereich zwischen malerei und fotografie“. Viele weitere Fotokünstler haben abstrakt gearbeitet: Man Ray, Hugo Erfurth, Alexander Rodtschenko, Lotte Jacobi, Otto Steinert, Raoul Hausmann, Chargesheimer, Floris M. Neusüss, Jean-Marc Bustamante, Hiroshi Sugimoto – oder Timm Rautert, der unbelichtete Fotopapierstreifen dem Tageslicht aussetzte.

Auch die zeitgenössische Fotokunst kennt viele faszinierende Beispiele abstrakter Fotografie. Wie etwa den 1963 geborenen Mannheimer Fotokünstler Claus Stolz. Es ist die Kraft der Zerstörung durch die Sonne, die er in seinen Bildern zeigt. Stolz lässt Sonnenstrahlen bei weit geöffneter Blende direkt in das Objektiv fallen. Ein Zerstörungswerk von enormer Intensität: Die filmische Schicht wird zerstört, es qualmt und brennt sogar manchmal in der Kamera: Aus der zerstörenden Kraft des Sonnenlichts entstehen wundervolle Abstraktionen, Sonnenbrände auf Zelluloid.
 

Foto Melanie Wiora: Natura XII

Melanie Wiora: Natura XII

 
Oder die Kölnerin Melanie Wiora, die in ihren Serien oft gegen die fotografische Realität arbeitet. „Mich interessiert es, Bilder zu schaffen, die beim Anschauen Innensichten vermitteln“, sagt Wiora über ihre Fotografien, die kein deutliches Bild mehr fixieren: Die Fotografie hat ihren abbildenden Charakter verloren, doch reicht sie auch nachdrücklich „Über den Moment hinaus“, wie Wiora einmal eine Ausstellung nannte. „In meinen Fotoarbeiten setze ich die äußere Erscheinung einer inneren Sicht gegenüber. Ich möchte sie als Abbilder – abgebildete Bilder – erkennbar machen. Ich beziehe in meine Bilder mit ein, dass es mehrere mögliche Wirklichkeiten gibt, die je nach Erinnerungen und Erfahrungen der Betrachter mitbestimmt werden. Der Betrachter ist immer Teil des Bildes. Er ist bildschaffend. Er schafft sich sein eigenes Bild, das aus dem gesehenen Bild hervorgeht.“ Mal überwältigen Wioras Bilder in ihrer Übermacht, dann verwirren sie in ihrer Unschärfe, ihrer Abstraktion, ihrer technischen Verfremdung.
 

Foto Thomas Wunsch, Ohne Titel, 2008 - 2010

Thomas Wunsch, Ohne Titel, 2008 – 2010
100×100 cm; Digitalprint auf Leinwand
Copyright Thomas Wunsch

 
Die Welt, wie wir sie nicht sehen, ist auch das Thema des Wiesbadener Fotokünstlers Thomas Wunsch. Das Abbild interessiert ihn nicht, eher der Eingriff, das Experiment, die informelle, freie Interpretation: die Abstraktion dessen, was uns umgibt. Seine großformatigen Digitalprints auf matter Leinwand – die dem Jazzlabel „ECM“ oft als Plattencover dienen – sind Nachfahren jener Strömung der Fotokunst, die in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts als „subjektiv“ bezeichnet wurde. Strukturen mag Wunsch, Unschärfen und Verwischungen – seinen Bildern sollte man sich langsam nähern: Sie geben nicht gleich alles von sich preis.

Auch Gottfried Jäger selbst, Doyen der abstrakten Fotografie und langjähriger Professor für Fotografie an der Fachhochschule Bielefeld, arbeitet bis in die Gegenwart. Vor kurzem zeigte die Berliner Galerie „Photo Edition Berlin“ Arbeiten Jägers unter dem Ausstellungstitel „Folgen von Folgen von Folgen von Folgen von Folgen“: Bilder, die nicht symbolisch sind und auf nichts anderes verweisen, als auf ihre eigene Erscheinung. Sie möchten nichts darstellen, außer sich selbst. Immer wieder ist das Licht ein Thema Jägers, dessen jüngere Arbeiten auch computergestützt entstehen. Viele der Werke sind von verblüffender Schönheit, die bei Jäger stets im Grenzbereich von Wissenschaft und Kunst angesiedelt ist.
 

Shirana Shahbazi, Komposition-02-2011    Shirana Shahbazi, Komposition-02-2011

Shirana Shahbazi, Komposition-02-2011 / Komposition-12-2011
C-Prints
Galerie Bob van Orsouw, Zürich
© Shirana Shahbazi

 
Eine der interessantesten jüngeren Positionen abstrakter Fotografie ist die 1974 geborene, in Zürich lebende Shirana Shahbazi, deren Ausstellung „Much like Zero“ bis zum 13. November im Fotomuseum in Winterthur zu sehen ist. Alvin Langdon Coburns Satz von 1916 – „Warum soll nicht auch die Kamera die Fesseln konventioneller Darstellungskunst abstreifen und etwas Frisches, bisher nicht Erprobtes wagen?“ – wird in diesem Werk auf neuartige Weise gestellt. Die Künstlerin geht den Weg der Intermedialität, lässt ihre Fotoarbeiten als Wandmalereien ausführen oder sogar Teppiche davon weben – sie ist Teil einer jungen Künstlerbewegung, welche die Grenzen des Fotografischen gerne hinter sich lässt und ihr Glück an den Rändern des Mediums findet.

Der neben Wolfgang Tillmans bekannteste Vertreter abstrakter Fotografie in Deutschland ist Thomas Ruff. Von einer sachlich-distanzierten Bildsprache entwickelte sich sein Werk immer stärker in den Bereich digital bearbeiteter, abstrakter Fotografie. Der 1958 geborene Düsseldorfer Becher-Schüler – dessen Arbeiten bis zum 31. Dezember in einer konzentrierten Schau im Museum Villa Haiss zu sehen sind – hat in den vergangenen Jahren für seine Serie „Cassini“ mit öffentlichem Bildmaterial aus dem Archiv der NASA gearbeitet. Der Titel der Serie verweist auf Giovanni Domenico Cassini, ein Astronom des 17. Jahrhunderts: der Namensgeber der Raumsonde, die Ruff sein fotografisches Rohmaterial lieferte.

Doch gerade im Vergleich zu seinen klassischen Arbeiten können Ruffs neue Bilder nicht überzeugen. Nicht inhaltlich, noch weniger in ihrer Anmutung als fotografisches Bild. Abstraktion kann auch Verflachung bedeuten: Ruffs „Cassini“-Serie ist kolorierter Ästhetizismus, aufgeblasene Farbenspielerei, reine Oberfläche, deren verführerische Einfachheit kein tieferes Interesse an den komplexen kosmischen Welten zum Ausdruck bringt.

Auch Wolfgang Tillmans hat sich in den vergangenen Jahren immer stärker der abstrakten Fotografie zugewendet. Seine Arbeiten entstehen als direkte Belichtungen von Fotopapier – oder werden, wie bei der „Lighter“-Serie, als monochrome Foto-Objekte in Plexiglas-Kuben präsentiert. Gerade ist bei Hatje Cantz ein großes Buch erschienen, das die abstrakten Fotografien des 1968 geborenen Turner-Preisträgers versammelt. Tillmans gelingt es mit seinen „Blushes“ oder „Paper Drops“, geheimnisvolle, objekthafte Arbeiten zu schaffen, die das Medium der Fotografie, die Wunder der Fotochemie, selbst zum eigentlichen Thema machen.
 

Foto Andreas Gefeller, Poles 07

Andreas Gefeller, Poles 07

 
Auch Andreas Gefeller schafft abstrakte Fotokunst höchster Qualität: Der 1970 geborene Düsseldorfer hat gerade sein neues Buch „The Japan Series“ veröffentlicht. Die Serie entstand im Rahmen des Projektes „European Eyes on Japan“ in der Präfektur Tottori – und auch hier beschäftigt sich Gefeller erneut mit seinem großem Thema: dem Blick auf die Wirklichkeit. Seine neue Serie zeigt unter anderem das Kabelgewirr von Strommasten, die in der digitalen Montage der Einzelaufnahmen selbst verschwinden. Wir sehen nur das abstrakte Gewirr der Leitungen, Stromkabel und Transformatoren – auch ein Symbol für das Chaos sich kreuzender Datenströme unserer Zeit, das Gefeller in die ruhige Ordnung eines zweidimensionalen fotografischen Bildes zu überführen weiß. Vor diesen Bildern reiben wir uns verwundert die Augen: Was sehen wir da eigentlich aus dem sonderbaren Blickwinkel der Untersicht? Vertrautes wirkt fremd – und abstrakt. (Siehe auch: Im Versuch, Verborgenes sichtbar zu machen)

Beinahe hundert Jahre nach dem Beginn der abstrakten Fotografie scheint dieser Strang der Fotokunst heute so lebendig wie eh und je. Immer neue Künstlergenerationen hinterfragen das Bild der Wirklichkeit, in dem sie es abstrahieren und reduzieren. Die Abstraktion vom Gegenstand scheint auch im 21. Jahrhundert noch eine adäquate Methode zu sein, der Welt zu begegnen – um ihr eigentliches Wesen zu erkennen.

Und schließlich, wie schon Immanuel Kant in „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ geschrieben hat: „Viele Menschen sind unglücklich, weil sie nicht abstrahieren können.“

(Marc Peschke)
 
 

Literatur:
 

Andreas Gefeller
The Japan Series (bei amazon.de)
Gestaltung von Andreas Gefeller, Texte von Celina Lunsford, Christoph Schaden
Deutsch/Englisch
2011. 80 Seiten, 58 farbige Abb. 30,10 x 30,00 cm, gebunden
ISBN 978-3-7757-2994-9
39,80 Euro
Titel The Japan Series
Gottfried Jäger, Rolf H. Krauss und Beate Reese (Hrsg.)
Concrete Photography. Konkrete Fotografie (bei amazon.de; derzeit vergriffen)
256 Seiten
Kerber Verlag. Bielefeld 2005
ISBN 3-936646-74-0
34 Euro
Titel Concrete Photography
Renate Heyne, Floris M. Neusüss, Hattula Moholy-Nagy (Hrsg.)
Moholy-Nagy. The Photograms. Catalogue Raisonné (bei amazon.de)
Vorwort von Hattula Moholy-Nagy, Einführung von Floris M. Neusüss, Text von Herbert Molderings, Renate Heyne
Gebunden mit Schutzumschlag. 312 Seiten, 616 Abbildungen; Englisch
Verlag Hatje Cantz 2009
ISBN 978-3-7757-2341-1
78 Euro
Titelabbildung Moholy-Nagy. The Photograms. Catalogue Raisonné
Herausgeber Berliner Festspiele & Haus der Fotografie Moskau
Alexander Rodtschenko (bei amazon.de)
224 Seiten; 230 Abb. im Duotone, 34 farbige Abb.; 23,5 x 29 cm; gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-89479-488-0
39,90 Euro
Titelabbildung Alexander Rodtschenko
Claus Stolz
Sunburns (bei amazon.de)
Deutsch/Englisch
Gebunden. 64 Seiten mit 25 Farbabbildungen
Kehrer Verlag. Heidelberg 2009
ISBN 978-3-86828-066-1
28 Euro
Titelabbildung Sunburns
Wolfgang Tillmans
Abstract Pictures (bei amazon.de)
Gestaltung von Wolfgang Tillmans, Texte von Wolfgang Tillmans
Deutsch/Englisch, 2011. 384 Seiten, 312 farbige Abb.; 29,70 x 27,50 cm; Leinen
ISBN 978-3-7757-2743-3
49,80 Euro
Titel Abstract Pictures
Melanie Wiora
Natura (bei amazon.de)
Revolver Verlag
Broschiert. Deutsch/Englisch. 28 Seiten
Berlin 2010
ISBN 978-3-86895-107-3
12 Euro
Titel Melanie Wiora - natura