In diesen Augenblicken hält Dietmar Meisel, Graukartenmann und Galerist, im kleinen, entfernten Sudwalde eine Rede anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Kaiserschnittchen mit und ohne Sissi“, und wir bringen sie hier, quasi „life“, diese bedenkenswerten Gedanken zu Kitsch und Kunst:

Ihnen allen vielen Dank für Ihr Kommen.

„Wir sind längst darauf konditioniert, den Ersatz für das Wirkliche zu nehmen. Leben in einer Welt der Versprechungen.“ (Dietmar Meisel, 2004)

Die aktuelle Ausstellung des Kombinats Mama products der Frankfurter, heute in Hamburg lebenden, Künstlerinnen Michaela Stephani und Bettina Ulitzka-Allali, „Kaiserschnittchen mit und ohne Sissi“, haben wir bewusst zwischen Ablauf der Weihnachtstage und kurz vor den Beginn des Karnevals gelegt.
 

Foto von den Ochsenbeinknochen-Prints; Micha Stephani und Bettina Ulitzka-Allali

Ochsenbeinknochen handbemalt, analog schwarzweiß fotografiert und auf Barytpapier handabgezogen, je 55×70 cm. © 2007 Micha Stephani und Bettina Ulitzka-Allali

 
So viel Feierlichkeit und Glanz ist manchem schon vor seinem Beginn zu den Ohren rausgekommen, der schale Geschmack kann schon bald mit einem kräftigen Schluck runtergespült werden.

Bei aller Überzeichnung der künstlerischen Beiträge möchte ich dennoch eine ernsthafte Betrachtung versuchen. Kitsch ist Verwechslung von Schein und Wirklichkeit: Projektion – und darin liegt auch ein positiver Aspekt. Wo Kitsch hinterfragt wird, können die Projektionen, wenn auch nicht im Einzelnen, so zumindest ihr Mechanismus aufgeschlossen werden, schließlich könnte das den Versuch anregen.

„Der beste Beweis für die Jämmerlichkeit des Daseins ergibt sich aus der Betrachtung seiner Herrlichkeiten…“

Kehren wir diesen Gedanken von Søren Kierkegaard doch wieder um, denn vielleicht finden wir durch die Betrachtung der Devotionalien wirklich zum wirklich Großartigen hin. Aber kann es überhaupt Kommunikation durch die Blume der Projektion geben?

„Kitsch ist das tückischste aller Gefängnisse“ hatte Prado notiert. Die Gitterstäbe sind mit dem Gold vereinfachter, unwirklicher Gefühle verkleidet, so dass man sie für die Säulen eines Palastes hält“. (Pascal Mercier „Nachtzug nach Lissabon“ btb 2006, S. 281)

Solange Ziele und Wünsche nicht zu verwirklichen sind, bleiben sie unwirklich. Der Kitschmensch gaukelt sich deren jetzige Realisierbarkeit vor, statt sich um eine künftige Realisierung seiner Wünsche zu bemühen.

Muttersöhnchen; © 1995 Bettina Ulitzka-Allali, Fotografie, ca. 40x60cm

Kitsch ist die Kapitulation hinsichtlich der Realisierbarkeit von Menschheitsträumen. Nicht die Träume sind per se verwerflich, auch wenn die Geschichte sie wiederholt verwirft, sondern die Kapitulation und ihre ignorante Projektion in die augenblickliche Wirklichkeit verwerfen sie. Nur um scheinbar an den Träumen HIER UND JETZT festhalten zu können, in ihnen zu schwelgen, während sie in Wahrheit dadurch schon längst aufgegeben und verraten wurden. Statt sie ihrer Realisierbarkeit entsprechend neu zu formulieren, und auf diese Weise eventuell an ihrem Kern festhaltend, an ihnen zu wachsen.

Kitsch zeigt die Welt nicht wie sie ist, auch nicht, wie sie sein könnte, sondern wie sie vereinfachend gewünscht, ersehnt wird. Ihre Wirklichkeitsebene oder tiefere Wahrheit ist Sehnsucht. Die es zu verstehen und deren Inhalt es zu bergen gilt. Immerhin ist sie eine letzte Hoffnung auf eine bessere, leichtere Wirklichkeit. Die es zu verstehen gilt, so wie auch die großen Religionen, die nicht unsere Lebenswelt beschreiben, sondern ebenfalls nur die unerfüllten Hoffnungen hochhalten, und scheinbar, immer wieder, kommunizieren. Ihre Wahrheit ist die Vereinfachung, und ihre universelle Verbreitung.

Kitsch flüchtet sich in die Rationalität des Arbeitens nach Rezept, in die Technik des Imitierens und bringt immer nur Surrogate hervor. Er macht die „harte“ Wirklichkeit gefällig, „schön“. Zeigt nicht die wirkliche Schönheit der Realität, er befindet sich vielmehr auf der Flucht vor ihr, vor deren scheinbarer Unvollkommenheit und inneren Widersprüchlichkeit, die als gefährlich erfahren und nicht als Prinzip des Lebendigen, angenommen wird. Bloß weil die Realität verkannt wird, sie anders, schlichter erwartet, und nur so verstanden werden kann. Als ein Resultat dauerhafter Konditionierung durch Kultur und Religion, der massiv betriebenen Revision gegen die Aufklärung und das heutige Verstehen der Prinzipien des Lebendigen.

Kunst, die Kitsch zu ihrem Gegenstand macht, kann sogar hässlich sein, ihren Devotionalien die Zunge heraus streckend. Übersteigernd sind die Kitsch- und Sehnsuchtsobjekte der Kunst von Bettina Ulitzka-Allali und Michaela Stephani quietschig, glänzend, bunt, schwimmen an der Oberfläche wie ihr Gegenstand. Mit dem sie auf eine gewisse Weise schon eins geworden sind.

„Unter den charakteristischen Zügen des primitiven Menschen, die bereits von C.G. Jung aufgedeckt wurden, gibt es zwei, die auch für den Konsumenten der traditionellen Kitschobjekte gelten. Auf der einen Seite projiziert der primitive Mensch sein Inneres in die Außenwelt, auf der anderen Seite ist er unfähig, sein Bewusstsein zu entwickeln und diesem sein Verhalten unterzuordnen; in der Tat begnügt er sich damit, die Zeit in einer Art Lethargie zu verbringen, in der er hauptsächlich von seinem Unterbewusstsein bestimmt wird. Dasselbe Phänomen können wir auch bei vielen Individuen beobachten, die in einer zivilisierten Gesellschaft leben. (Man sehe die Verbreitung der Gegenstände des traditionellen Kitsches). Auch hier projizieren die Sammler und Benützer ihre eigene innere Welt nach außen. Da ihre Psyche im Grunde nicht von den Problemen bedrängt ist, die das Leben in der Natur mit sich bringt (Kampf gegen die Dunkelheit, die Kälte, die wilden Tiere), ist ihr Inneres von den Probleme der Umwelt erfüllt, in der sie leben: Geld zu verdienen, sexuelle Bedürfnisse zu befriedigen, Prestige zu erlangen. Neben den schlechten Filmen und Zeitschriften usw. dienen ihnen die Kitschobjekte als Anlass, die Misere ihrer inneren Welt nach außen zu projizieren. Plakat zu Kaiserschnittchen mit und ohne SissiAuf diese Weise werden die latenten Probleme in Objekte fiktiven Wertes projiziert, weil dies einfacher ist. Da sie unfähig sind, sich ihres Verhältnisses zur Welt, in der sie leben, bewusst zu werden, um so ihre eigene Individualität zu entwickeln, unfähig, die Sprache und Logik der Formen zu verstehen, entscheiden sich diese Individuen häufig für den falschen Glanz des Vulgären, weil es sie an etwas erinnert, was am Grunde ihrer Wünsche schlummert. In dieser Wahl ähneln sie den Eingeborenen, die überglücklich sind, wenn sie Gold und Elfenbein gegen Glasperlen europäischer Händler eintauschen können.“
(aus Gillo Dorfles „Der Kitsch“ Verlag Wasmuth Tübingen 1969, übersetzt aus dem Italienischen; Gabriele Mazzotta Editiore Milano 1968, S. 289)

Ich danke Ihnen fürs Zuhören und wünsche Ihnen Spaß und Anregung, Zu Prosecco und Wein gibt es gleich auch noch einige Kleinigkeiten zu Essen …

(Dietmar Meisel)
 
 
Ausstellung:
17.01.2009 bis 23.02.2009
Michaela Stephani und Bettina Ulitzka-Allali
Kaiserschnittchen mit und ohne Sissi
GALERIE ab-heute.net
Tepestraße 20A
27257 Sudwalde
Tel.: 04247-1521
 
Künstlerinnen, Werke, Preise:
Mama products