Ausschnitt aus Soldiers; Foto Grzegorz RogalaWarum nur diese Flut von Fotos? Warum können wir es nicht lassen, uns selbst und unsere Freunde mit der Digitalkamera oder Handy-Cam ständig aufzunehmen? Vielleicht liegt es daran: Nur wer sich im Spiegel seines Monitors sieht, existiert wirklich

Diese Form der Überprüfung und Bestätigung unserer aktuellen Existenz scheint uns notwendig und von beruhigender Wirkung zu sein. So entstehen Unmengen potenzieller oder tatsächlich vorhandener Dateien. Über das spontane Verifizieren unserer aktuellen Verfassung hinaus (Wie sehe ich aus? Sind wir gut drauf?) stellt sich nun aber nach kurzer Reflexion die Sein-Frage: Speichern oder Löschen?
 

Kids - she and hands; Foto Grzegorz Rogala

Kids – she and hands; Foto Grzegorz Rogala

 
In den Fotografien des polnischen Filmemachers und Künstlers Grzegorz Rogala passiert beides gleichzeitig. Aus dem Fundus der Fotografie-Archive fischt er Bilder von Menschen, die er mehrfach überlagert oder mit anderen Portraits kombiniert. Dadurch kreiert er Gesichter und Einzel- oder Gruppenportraits, die es so nie gegeben hat. Sein „Reenactment“ des Figureninventars gaukelt uns also bloß Authentizität vor. Wir betrachten vor uns Menschen, deren Bild wir von uns aus nie gesehen hätten. Mit einem leichten Lächeln, durchweg en face, schauen sie uns an, die Portraitierten. Meist mit geschlossenem Mund, in stillschweigender Übereinkunft zwischen ihnen und dem Fotografen, dem sie nie begegnet sind.

Merkwürdigerweise fühlt man sich ein wenig wie ein Zeitungsleser, der zufällig auf eine bebilderte Todesannonce stößt, die man nicht einfach übergehen kann, weil man der Person, die einen da anschaut, auch wenn man sie nicht kennt, wenigstens diesen Respekt erweisen will: ihr einige wenige Sekunden vor dem Umschlagen und der restlichen Zeitungslektüre im Gedenken Beachtung zu schenken.
 

Kids - all my friends; Foto Grzegorz Rogala

Kids – all my friends; Foto Grzegorz Rogala
 
 
Foto Grzegorz Rogala

(Ausschnitt aus: Kids – all my friends)

 
In den Gruppenportraits sind die Figuren neben-, über-, vor- und hintereinander gestaffelt, so dass der Betrachter glaubt, die Dargestellten würden auf einer Tribüne posieren. Deren „Auferstehung“ aber ist durch ihre vielfache Überlagerung mit ihren eigenen bzw. den Portraits anderer Menschen schon wieder zurückgenommen. Ihr Auftauchen ist eher schemenhaft. Nur einzelnen Gesichtern lässt Rogala einen prominenten Platz zwischen den Geistern um sie herum. In anderen Bildnissen erscheinen die Personen gleichermaßen sichtbar und nebeneinander aufgereiht, dann wiederum kaleidoskopartig bzw. massenhaft und dadurch komplett anonymisiert angeordnet. In einigen Bildern sind sogar nur noch einzelne Körperteile zu sehen, zum Beispiel Hände, wie sie wie aus einem Sumpf heraus zu flehen scheinen.

Grzegorz Rogalas Figuren-Kompositionen setzen sich zusammen aus bis zu hundert einzelnen Ebenen. Rogala bedient sich dazu digitaler Bildbearbeitungsprogramme, auch wenn seine Arbeiten eher wie klassische Fotografie aussehen, nicht zuletzt aufgrund der vielen Überblendungen. Er selbst sagt dazu: „Mische die Farben des Regenbogens und alles wird grau!“ Hinzu kommt, dass die Fotografien, die er zu einem neuen Bild zusammenfügt, oftmals aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammen, weil damals jenseits aller heutigen Pixelzahlen die Fotografien bekanntermaßen eine grandiose Schärfenzeichnung aufweisen.

Das Schwarz-Weiß der Fotografien unterstützt deren Funktion als Erinnerungsbildnisse. Unser kollektives Gedächtnis speichert den Aspekt des Zeitlosen in dieser Ästhetik.
 

Soldiers; Foto Grzegorz Rogala

Soldiers; Foto Grzegorz Rogala

 
„Mothers, sisters, fathers“ lautet der Titel seiner fotografischen Arbeit: Wir kennen sie alle nicht, die Mütter, Väter, Schwestern und Brüder, genauso wenig wie die Kinder und Soldaten, die uns Rogala zeigt. Doch kommen sie uns seltsam vertraut vor, sie blicken uns direkt in die Augen – und scheinen dennoch unendlich weit weg. Generationen kommen und gehen – das Verschwinden und Vergessen ist implizit. In den Bildern Rogalas verschwinden die Leute, gerade weil sie vielfach wiederkehren. Ihre Überlagerung lässt sie auf der Bildoberfläche untergehen wie im Nebel der Zeit.

Eigene Fotoarchive, Familienalben und das Internet sind Rogalas Bildquellen für seine digital montierten Generationenbildnisse. Ihr vergänglicher Stolz wird insbesondere in den panoramaformatigen, 300×70 cm großen Soldatenportraits spürbar, den formalen und eindrucksvollen Höhepunkten dieser Werkgruppe Grzegorz Rogalas. Sicher nicht zufällig gibt es zu dieser Figurengruppe auch die meisten Variationen. Denn die Darstellung von wie in Stein gemeißelt wirkenden Soldaten zeigt die Tragik soldatischer Bestimmung und ist eine ebenso zeitlose wie leider aktuelle Metapher, in der sich die Vanitas menschlicher Existenz unendlich und unausweichlich manifestiert.

Derzeit sind erstmalig in Deutschland zwanzig seiner Fotografien in der Ausstellung „Mothers, sisters, fathers“ in der Galerie studio_01 in Wiesbaden zu besichtigen. Noch bis zum 22.11.2008.

Galerie studio_01
65185 Wiesbaden
Herderstraße 11
Öffnungszeiten Do. 17-19h, Sa. 15-17h und nach Vereinbarung

(Matthias Haupt)