Bei Sotheby’s in New York sollte am 7. April 2008 ein Bild unter den Hammer kommen, das die Fotohistorie ein wenig durcheinander wirbeln könnte: Es ist die sogenannte photogene Zeichnung eines Blatts, die möglicherweise lange vor dem Jahr 1839, dem offiziellen Datum der Erfindung der Fotografie durch William Henry Fox Talbot und Louis Jacques Mandé Daguerre, entstanden ist. Doch jetzt hat Sotheby’s das Blatt kurzfristig zurückgezogen – man wolle erst einmal die Herkunft genauer untersuchen:

„Leaf“ – das „Blatt“ ist Teil der 69 Stücke umfassenden „Quillan-Kollektion von Fotografien des 19. und 20. Jahrhunderts“. Die Kollektion ist ziemlich exquisit und umfasst alles, was in der klassischen Fotografie Rang und Namen hat – von Ansel Adams über Nadar und Cindy Sherman bis zu Gary Winogrand. Der erwartete Auktionserlös liegt bei mehr als fünf Millionen US-Dollar.

„Leaf“ - Fotograf unbekannt; Credit Sotheby's New York

Im Auktionskatalog zur Quillan-Kollektion führt Sotheby’s das „Blatt“ mit „Fotograf unbekannt“ auf. Bisher wurde diese frühe Version eines Fotogramms Fox Talbot selber zugeschrieben, zusammen mit fünf weiteren „photogenen Zeichnungen“ aus einem alten britischen Album. Nun gelangte der angesehene amerikanische Fotohistoriker und Talbot-Spezialist Larry J. Schaaf zu einer anderen Theorie. Das „Blatt“ könnte auch von Thomas Wedgwood oder einem seiner engen Bekannten oder Freunde stammen.

Grund der Vermutung: Das auf dem Papier eingetragene Initial eines „W“ und die wahrscheinliche Bekanntschaft Wedgwoods mit dem ersten Besitzer jenes alten Albums, Henry Bright aus Bristol. Thomas Wedgwood lebte von 1771 bis 1805 und experimentierte nach Schaafs Vermutungen ab den 1790-er Jahre bereits mit frühen Formen der Fotografie – und wohl mit genau solchen „photogenen Zeichnungen“.

Talbot arbeitete ebenfalls mit solchen Zeichnungen, deshalb waren die Bilder ihm auch bisher zugeschrieben worden. Allerdings wurde von Wedgwood bisher keine einzige fotografische Arbeit eindeutig als seine identifiziert, wie Schaaf feststellt, der auch als Professor an der Londoner Universität der Künste lehrt. Dokumentiert ist lediglich, dass Wedgwood an fotografischen Experimenten mit Silbernitrat-beschichteten, lichtempfindlichen Papieren arbeitete und auf welche Weise er sich versuchte. Zum Beispiel teilte er einige seiner Verfahren brieflich James Watt mit, dem Erfinder der Dampfmaschine. Der knabberte seinerseits an einem damals (1802) noch ungelösten Problem: nämlich wie die Bildergebnisse dauerhaft fixiert werden könnten. Die Tatsache des Briefwechsels von Wedgwood mit Watt führt Schaaf einer weiteren Vermutung: Das Initial „W“ auf dem „Blatt“ könnte ja auch auf einen Urheber Watt hindeuten.

Larry J. Schaaf legte sich in seinem Essay für den Auktionskatalog am Ende nicht auf eine eindeutige Autorenschaft fest. Es blieb auch noch eine Reihe weiterer Fragen offen: Ist es möglich, dass Arbeiten von Wedgwood und seiner Freunde bis heute erhalten bleiben konnten, ohne dass bekannt ist, ob sie dauerhaft fixiert werden konnten? Wie wurden die Bilder in das Album Henry Brights überliefert, von wo sie in die Quillan-Kollektion gelangten? Larry J. Schaaf: „In keiner Sammlung konnten bisher Beispiele von Wedgwoods Arbeit identifiziert werden – die sechs Bilder wären die einzigen.“

Schaaf schließt aus seinen Überlegungen, dass die bisher akzeptierte Chronologie der Fotografie weit komplexer ist als gedacht und der Beginn im Jahr 1839 nicht mehr eindeutig ist: „Es gibt eine ganze Reihe von frühen Experimentatoren, deren Arbeit noch zu lokalisieren ist, die aber nichtsdestotrotz experimentiert haben.“ So werde in Sachen Fotogeschichte wohl noch einiges zu verändern sein.

Für Sotheby’s ist Schaafs Expertise sicherlich eine willkommene Werbung vor der Auktion. Denise Bethel, die Direktorin der Fotografie-Abteilung, sagte: „Es ist ein aufregende Überlegung, dass diese photogenische Zeichnung ein aus der Zeit vor Talbot und Daguerre sein könnte.“ Könnte das unzweifelhaft bestätigt werden, wäre das „Blatt“ sicherlich eine der wichtigsten Entdeckungen der Fotogeschichte.

(Uli Eberhardt)

Bildnachweis: „Leaf“ – Fotograf unbekannt; Credit Sotheby’s New York
 

Nachtrag (3.4.2008; 15:15 Uhr): Angesichts der aktuellen Entwicklungen folgt ein Nachtrag; auch die Einleitung wurde um diese Information ergänzt.

Sotheby’s nimmt älteste Fotografie aus der Auktion – Erstmal Untersuchungen über tatsächliche Herkunft

Gerade berichteten wir über Sotheby’s Auktion der Quillan-Kollektion und des darin enthaltenen, vielleicht ältesten bekannten fotografischen Bildes der Welt. Da kommt schon die nächste Nachricht aus New York: Sotheby’s und die Quillan-Eigentümer haben sich entschlossen, die Versteigerung der so genannten photogenen Zeichnung namens „Leaf“ – das Blatt – erst einmal zu verschieben.

Der Grund: Der Essay des amerikanischen Fotohistorikers Larry J. Schaaf über eine mögliche Herkunft des „Blatts“ aus Zeiten vor der offiziellen Erfindung der Fotografie habe eine lebhafte und begeisterte Diskussion unter Gelehrten in aller Welt ausgelöst, teilt Sotheby’s mit. Diese Diskussion habe der Forschung neue Gebiete aufgedeckt, die nun in den nächsten Monaten untersucht werden sollen. Sotheby’s habe das Bild aus der am 7. April geplanten Auktion herausgenommen, sagte Denise Bethel, Direktorin der Fotografie-Abteilung, „weil die Möglichkeit besteht, ein gesichertes Ergebnis zu dieser frühen photogenen Zeichnung zu bekommen.“ Das sei „aufregender“ als eine Auktion zum jetzigen Zeitpunkt zusammen mit der ganzen Kollektion.

Will heißen: Wären das „Blatt“ und die fünf anderen Bilder der Serie tatsächlich vor der Erfindung der Fotografie 1839 entstanden, würde sich deren Auktionswert wohl vervielfachen.