Medien prägen die Vorstellungswelt Heranwachsender massiv und legen fest, in welchen Kategorien diese später handeln, so das Ergebnis einer Studie von Wissenschaftlern der Universität Bonn:

Pressemitteilung Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn:

„… und er blies der Hexe das Gehirn weg.“ Studie zeigt, wie Medienbilder die Fantasie prägen

Frank Luerweg, Abteilung Presse und Kommunikation
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

13.11.2007

Verrohen Kinder und Jugendliche durch brutale Medieninhalte? Zumindest prägen Bilder aus Kino und Fernsehen massiv ihre Fantasie. Das zeigt eine Studie von Wissenschaftlern der Universität Bonn, die jetzt in Buchform erschienen ist. Knapp 300 Schülerinnen und Schüler der Klassenstufen 7 und 8 sollten zu einem klassischen Märchenanfang einen Schluss schreiben. Vor allem die Jungen fanden oft extrem gewalttätige Enden, an denen sich direkt der Einfluss von Filmen und Computerspielen ablesen ließ. Auch bei Mädchen sind die Gedanken nicht immer frei: Sie ließen ihre Märchen zwar in aller Regel gewaltfrei enden, bedienten sich dabei aber gerne aus romantischen Seifenopern.

Littleton, Erfurt oder – ganz aktuell – die finnische Kleinstadt Tuusula sind Schauplätze von Gewaltszenarien, die aus einem Film oder Computerspiel stammen könnten. Entsprechend schnell stehen die Medien unter Verdacht, für derartige Amokläufe die Vorlage geliefert zu haben. „Unsere Studie zeigt in der Tat, wie sehr Medienbilder inzwischen die Phantasie von Kindern besetzen“, erklärt Professor Dr. Volker Ladenthin von der Universität Bonn. „Also auch jene Phantasie, mit der sie ihr späteres Handeln planen.“

Ladenthin hat zusammen mit seinen Versuchsleiterinnen Jessica von Wülfing und Claudia Kamps untersucht, welche Bilder in den Köpfen von Heranwachsenden herumspuken. Dazu händigten sie Schülern den Anfang des Märchens „Die Königstochter im Zauberschloss“ aus. Darin wird eine Prinzessin von einer Hexe gefangen genommen. Die Jugendlichen sollten dazu einen Schluss schreiben. Die Forscher führten ihr Experiment an reinen Mädchen- und Jungenschulen durch, und zwar sowohl an Gymnasien als auch an Realschulen. Insgesamt 125 Schülerinnen und 155 Schüler nahmen teil.

Verona Feldbusch als Killerin

Die Fantasien der Jungen und Mädchen unterschieden sich deutlich: So ließen Schüler ihre Märchen oft in wahren Blutorgien enden – und sprengten dabei ohne Hemmungen die Grenzen des Genres: Da trampelt King-Kong die Königstochter nieder, die Amerikaner werfen die Atombombe, und die Helden kämpfen mit Messern, Uzis oder Präzisionsgewehren. Sogar Verona Feldbusch hat einen Auftritt, in dem sie als Autofahrerin kaltblütig die Hauptfiguren des Märchens überfährt. Die Schülerinnen kamen bei der Befreiung der Prinzessin dagegen meist ohne Gewalt aus. Stattdessen nahmen sie gerne Anleihen an romantischen „Daily Soaps“.

„Unsere Studie kann und will nicht nach den Ursachen von konkreten Gewaltverbrechen jugendlicher Täter fragen“, betont die Bonner Medienwissenschaftlerin Jessica von Wülfing. Das Experiment zeigt jedoch immerhin, wie sehr Bilder aus den Medien die Vorstellungswelt Heranwachsender prägen. „Das ist eine gefährliche Entwicklung“, warnt Professor Ladenthin, auf den die Idee zu dem Projekt zurückgeht: „In der Jugend lernt man das Vokabular, mit dem man die Welt begreift. Wenn darin bestimmte Vokabeln fehlen – Mitgefühl, Liebe, aber auch Mitleid oder Schuld -, führt das zu Defiziten in der Wahrnehmung und in letzter Konsequenz auch im eigenen Verhalten.“ Wer nie Musik gehört hat, kann keine Vorstellung entwickeln, was Musik überhaupt ist. Ähnlich kann man in Horrorfilmen und Ballerspielen Vieles lernen, aber kein Mitgefühl.

Sind die Jungen mit den brutalsten Märchen also allesamt potenzielle Gewalttäter? Sicherlich nicht, relativiert der Bonner Erziehungswissenschaftler. „Zumal nicht auszuschließen ist, dass die Schüler sich bei ihren Antworten durch eine besonders blutige Geschichte vor ihren Klassenkameraden profilieren wollten.“ Gefährlich werde es aber dann, wenn positive Alternativbilder fehlten: Dann bleibe das Vokabular lückenhaft. Aufgabe der Schule sei es daher, derartige Gegenbilder anzubieten. „Es gibt genügend Literatur, in denen die Charaktere differenzierte Probleme haben und sie auch differenziert lösen. Lehrer können aber derartige Texte aber nicht im husch-husch-Verfahren behandeln – sie brauchen Zeit dafür.“ Er empfiehlt Lehrern auch, das Experiment selber in ihrer eigenen Klasse zu wiederholen. Das Unterrichtsmaterial ist im Buch enthalten, das zur Studie erschienen ist.

„Medien mögen keine unmittelbaren Wirkungen haben“, zieht Ladenthin ein warnendes Fazit. „Sie prägen aber massiv die Fantasie von Heranwachsenden und legen dadurch fest, in welchen Kategorien diese später handeln.“

Gewalt der Medien. Studien zu Gewalt an Schulen. Empirische Hinweise und bildungstheoretische Konzepte. Volker Ladenthin und Jessica von Wülfing unter Mitarbeit von Gabriella Schmitz. Ergon Verlag Würzburg.

Siehe auch: Institut für Kommunikationswissenschaften der Universität Bonn

(thoMas)