Die Tageszeitung Bild spielt sich gerne auch als öffentlicher Moralapostel auf; und weiß selbstverständlich genau, was gut und richtig ist in diesem unserem Lande – und was falsch. Deren Macht ist so groß, dass sich (leider) selbst öffentlich-rechtliche Fernsehsender dem Bilddikat beugen:

Aktuell wurde ein Tatort noch kurz vor der Sendung umgeschnitten, nachdem Bild „öffentliche Entrüstung“ artikuliert hatte:

Brutale Sex-Szenen zur besten Sendezeit – Wie versaut darf ein Tatort sein?
Nach BILD-Bericht wurden viele Szenen nicht gezeigt! – ARD zensiert Sex-Tatort

Wobei Bild natürlich – sicher allein im Interesse des zu informierenden Lesers – die „versaute“ und später dann zensierte Szene in Standfotos in aller Ausführlichkeit präsentiert. Bild darf anscheinend zeigen, was anstößig ist, sofern andere es zeigen.

(In diesem Zusammenhang sei unbedingt auch auf den hervorragenden www.bildblog.de verwiesen, der die Berichterstattung samt der (oft heftig bearbeiteten oder in falschen Sinnzusammenhang gestellten) Bilder von Bild kritisch begleitet.)

Zurück zu dem Zensur-Kniefall vor der Boulevardpresse. In zwei Pressemitteilungen des Bundesverbandes Regie stellen sich die Zusammenhänge und Hintergründe der „brutalen Sex-Szenen“ (Bild) doch ein wenig anders dar:

Pressemitteilung des Bundesverbandes Regie von 16.11.2005:

Bild zensiert ARD: Übernimmt Springer nun auch die TV-Aufsicht?

Der Bundesverband Regie (BVR) warnt vor einer zunehmenden Medienkontrolle durch den Springer-Verlag. Der Boulevard-Riese schickt sich nicht nur an, mit der Senderkette Pro SiebenSat1 wesentliche Teile des Privat-Fernsehens zu kaufen, sondern versucht nun offenbar auch, die Programmkontrolle der konkurrierenden öffentlich-rechtlichen Sender zu übernehmen. So geschehen am vergangenen Samstag, als die Bild-Zeitung sich über eine Sex-Szene erregte, die am darauffolgenden Sonntag im ‘Tatort’ gezeigt werden sollte. Gleichzeitig präsentierte Bild die von ihr beanstandeten Ausschnittsbilder ausführlich und in Farbe – wohl zu Informationszwecken, damit sich die kulturinteressierte Leserschaft selbst ein Bild machen konnte. Die Bild-Kampagne zeigte Wirkung: Auf Anweisung des auftraggebenden Saarländischen Rundfunks wurde die von der Boulevard-Zeitung monierte Szene noch am Sonntag wenige Stunden vor Ausstrahlung herausgeschnitten. Am gestrigen Dienstag feierte ‘Bild’ unter der Überschrift ‘ARD zensiert Tatort – Nach Bild-Bericht wurden diese Szenen nicht gezeigt’ seinen Erfolg und bediente die Leserschaft aufs Neue mit den monierten Bildern.

Dem Vernehmen nach hatten sich bayerische Landespolitiker auf Druck von ‘Bild’ an den gegenwärtigen ARD-Vorsitzenden Thomas Gruber gewandt. Dieser ist zugleich Intendant des Bayerischen Rundfunks, der schon durch das Ausblenden eines ‘Scheibenwischers’ Zensurgeschichte schrieb. Nach Informationen des BVR hat dieser ‘Tatort’ wie üblich sämtliche Sender-Instanzen durchlaufen, von der Jugendschutzbeauftragten des Saarländischen Rundfunks bis hin zu der für das ARD-Gesamtprogramm zuständigen Jugendschutzkommission ‘Kleine Gruppe’. Auch der Intendant des Saarländischen Rundfunks, Fritz Raff, hatte zuvor den letzten ‘Tatort’ mit Kommissar Max Palü in einer Kino-Preview gefeiert. Am Sonntag ereilte ihn dann wohl aus München die Weisung, den Tatort nachträglich zu entschärfen oder ihn sogar ganz abzusetzen. Auf Nachfrage des BVR teilte der Regisseur Robert Sigl mit, er habe – vor diese Wahl gestellt – die Szene nochmals gering überarbeiten lassen. Am Abend habe er jedoch seinen Augen nicht getraut: Die aus seiner Sicht essentielle Szene seines Fernsehspiels, die für die Psychologie der handelnden Figuren von großer Bedeutung ist, wurde dermaßen verstümmelt, dass der Regisseur die Gesamtwirkung seines Films beeinträchtigt sieht. Der ORF hatte offenbar nicht diese Moralprobleme und strahlte am selben Abend den ‘Tatort’ in der Originalfassung aus.

Aus Sicht des BVR ist es zynisch genug, dass die Bild-Zeitung zur Steigerung der eigenen Auflage vor der Ausstrahlung Standbilder aus einem Film veröffentlicht, sich gleichzeitig aber auf heuchlerische Weise zur Moralhüterin der Nation aufspielt. Geradezu ungeheuerlich ist aber, dass die ‘Bild’ offenbar die Macht besitzt, den Vorsitzenden der ARD aufzuscheuchen und dazu zu zwingen, einen Fernsehfilm zu zensieren. Nach Ansicht von BVR-Geschäftsführer Steffen Schmidt-Hug lässt dies erahnen, was der Springer-Verlag unter den mit der Übernahme von ProSiebenSat1 propagierten ‘Cross-Media-Effekten’ versteht. Wenn Szenen, wie sie auch in Ingmar-Bergman-Filmen zur Dramaturgie gehören, nach den von ‘Bild’ propagierten amerikanischen Moralvorstellungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen nicht mehr gezeigt werden dürfen, stellt sich die Frage, ob der Springer-Verlag die gleichen Maßstäbe bei den eigenen Fernsehsendern anlegen wird. Eher ist zu vermuten, dass derartige Szenen nur noch angedeutet zu sehen sind – verbunden mit der Einblendung: ‘Die vollständigen Bilder finden sie morgen in ‚Bild’’.

Wenig später folgte ein weitere Pressemitteilung des Bundesverbandes Regie, gleichfalls vom 16.11.2005, diesmal mit einer Stellungnahme des Regisseurs:

Bild zensiert ARD/Reaktionen/Stellungnahme Regisseur

Aufgrund diverser Reaktionen und Nachfragen zum Zensur-Skandel hat der BVR den Regisseur Robert Sigl um Stellungnahme gebeten, inwieweit durch die von der Bild-Zeitung betriebenen Zensur tatsächlich ein Eingriff in die Dramaturgie vorliegt. Die Stellungnahme des Regisseurs gegenüber dem BVR geben wir im Folgenden wieder:

‘In dem Film geht es um einen machtbesessenen Industriellen, der in Geldnöten steckt und es auf das Vermögen seiner Adoptivtochter abgesehen hat. Die junge Frau, die er emotional und sexuell komplett von sich abhängig gemacht hat, leidet an einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung und kann und will Zusammenhänge, die ihre Scheinwelt zerstören könnten, nicht wahrnehmen. In der von der Bild-Zeitung ausgeschlachteten Szene nähert sich ihr Stiefbruder einem Badehaus und beobachtet ungläubig und geschockt, wie sich die junge Frau von ihrem Adoptivvater auf einem Tisch ‘nehmen’ lässt. Dabei blickt der Mann auf, entdeckt seinen Sohn, wirft ihm einen triumphierenden Blick zu und dringt dann weiter in seine Adoptivtochter ein, wobei es hierbei überhaupt nicht um die Erotik, sondern um pure Machtdemonstration geht.

Erst durch diesen Blickwechsel (der in der zensierten, ausgestrahlten Version völlig fehlt) wird die ganze Abgründigkeit, die in dieser zerrütteten Familie herrscht, deutlich. Der Sohn stürzt daraufhin in das Badehaus auf den Vater zu und versucht ihn von der Adoptivtochter zu trennen. Daraufhin prügelt der Vater den Sohn in den Pool, springt ihm hinterher und drückt ihn mehrmals unter Wasser. Die Adoptivtochter richtet sich auf dem Tisch auf und sieht völlig apathisch vor sich hin, als würde sie die ganzen Vorgänge gar nicht wahrnehmen. (Später wird sie im Kommissariat behaupten, dass ihr Bruder gar nicht anwesend war.) Der Bruder kann sich aus dem Würgegriff des Vaters befreien und ergreift die Flucht.

Der Vater steigt aus dem Becken, schreitet als Sieger an seiner Adoptivtochter vorbei. Diese sitzt noch immer auf dem Tisch, sieht vor sich hin nach unten und sagt tonlos: ‘Pass auf, dass du nicht in die Scherben trittst.’ Dieser Moment ist ebenfalls zensiert. Sie sagt diesen Satz nun im OFF und man sieht nicht den Vater, der nackt aus dem Pool kommt. Durch die Anhäufung von Schnitten und den nachträglichen inflationären Einsatz von Zeitlupe zur Kaschierung der Eingriffe kam es zu einer großen Verwirrung bei den Zuschauern, die die Szene zum Teil für eine Traumsequenz hielten. Auf alle Fälle wurde ein wichtiger psychologischer Aspekt des Films ausgehebelt. Die Szene hatte keinen voyeuristischen Charakter und wurde erst durch die Bild-Zeitung aus dem inhaltlichen Zusammenhang gerissen und in einen pornographischen Kontext gerückt.’

Wie heißt es doch so schön: BILD Dir Deine Meinung. Es ist jedoch anscheinend besser, sich eine Meinung über Bild denn mittels Bild zu bilden. (thoMas)