Foto Karen Stuke: Minna von BarnhelmMit der Camera obscura zur Opera obscura; mit der Stunden-Langzeitbelichtung zur Quintessenz der Oper. Karen Stuke verdichtet ganze, stundenlange Opern- und Theater-Aufführungen in einem einzigen, faszinierenden Bild:

Theaterbilder in zeitlicher und räumlicher Totale

Es begann mit der eigenen Theaterleidenschaft Mitte der 1990er Jahre in Bielefeld. Karen Stuke studierte Kommunikationsdesign an der dortigen renommierten Fachhochschule und schloss das Studium als Photographin mit einem Diplom bei Gottfried Jäger ab. Nebenher besuchte sie die Aufführungen des Bielefelder Theaters, wo sie im Fach Regie hospitierte. Damals entstanden ihre ersten Theaterbilder mit einer Camera Obscura. Die ebenso uralte wie traditionelle Kameratechnik lässt keine Kontrolle über die entstehende Aufnahme zu; nur mit einer gehörigen Portion Erfahrung und Intuition lassen sich die Bildergebnisse vorhersehen. Das Arbeiten mit der Camera Obscura in der heutigen Zeit digitaler Autofokuskameras mit schier unglaublichen Belichtungsprogrammen ist meist konzeptionell begründet. Die fehlende technische und ästhetische Kontrolle wird durch die Neugier auf eine geglückte Aufnahme, die nichts weniger als die Essenz der eingefangenen Situation zu transportieren vermag, ersetzt. Das gilt vermutlich auch für Karen Stuke.
 

Foto Karen Stuke: Celan

Celan
Staatstheater Mainz 2003
Regie:: Peter Ruzicka, Bühne: Gottfried Pilz

 
Allerdings nutzt die Künstlerin darüber hinaus die Möglichkeiten einer digitalen „Post Production“, indem die Negative eingescannt, gegebenenfalls kompositionell beschnitten und skaliert werden, um die Bilddaten anschließend auf das gewünschte Format zu vergrößern. Für den Kunstmarkt werden in der Folge meist zwei Bildgrößen in kleinen Auflagen produziert. Neben der Camera Obscura verwendet sie gelegentlich eine professionelle 4×5-inch-Studiokamera; doch die Technik bleibt letztlich zweitrangig, so Stuke, die Kameras sind bloße Werkzeuge, um Bilder entstehen zu lassen.
 

Foto Karen Stuke: Minna von Barnhelm

Minna von Barnhelm
Stadttheater Bielefeld 2000
Regie: Marcus Lachmann, Bühne: Sandra Meurer

 
Während die festangestellten Theaterphotographen (die gemeinhin das Bildmaterial für die Aushänge und Broschüren liefern) bei den Proben in erster Linie Standbilder mit langen Objektivbrennweiten machen, interessierte die Berliner Künstlerin schon immer das Gesamtgeschehen – zeitlich und räumlich als Totale. So belichtete sie 1995 in Bielefeld kurzerhand ein gesamtes Theaterstück auf einem einzigen Bild mit einer modifizierten Kamera. Die Gestik und Mimik der Sänger und Schauspieler sind auf einer solchen Langzeitaufnahme natürlich nicht mehr erkennbar; stattdessen sieht man schlierenhaft ihre Bewegungen auf der Bühne sowie die Verteilung der Protagonisten innerhalb des Bühnengeschehens mittels einer nahezu unendlichen Überlagerung und Verdichtung von Bewegungsspuren. Die Aufnahmen sind folglich auch eine Studie zum Faktor Zeit. Für die Photographin bleibt es wichtig, die Zeit letztlich nicht beeinflussen zu können.
 

Foto Karen Stuke: Labatut 2005

Labatut 2005, aus der Serie „Sleeping Sister“
Pigment Print, 60×90 cm / 30×45 cm, Ed. 8+II

 
Der zweite kardinale Referenzpunkt für Stuke scheint das Licht zu sein, das die Bühnenräume erstrahlen lässt und gleichzeitig bei einer so extremen Langzeitaufnahme perfekt zu dosieren ist. In diesem Fall ist es das ausschließlich künstliche Licht der Bühnenbeleuchtung; in der Werkgruppe „Sleeping Sister“ dagegen das Restlicht im Schlafzimmer, sprich, das von draußen in den Raum eindringende Licht oder dessen Reflexionen. Auch jene Aufnahmen wurden so lange belichtet, wie das Ereignis, hier also der nächtliche Schlaf, dauerte. Die Protagonistin ist durch die Bewegungen während des Schlafens ebenso einer präzisen Schilderung entzogen wie die Schauspieler auf der Bühne – hier wie dort kommt das Ergebnis einem Traumbild gleich.
 

Foto Karen Stuke: Winterreise

Winterreise (Heinz Winbeck nach Franz Schubert)
Landestheater Linz 2011
Choreographie: Jochen Ulrich, Ausstattung: Gottfried Pilz

 
Parallel photographierte Stuke mit der Camera Obscura an den Bühnen in Köln, Berlin, Dresden, Wien, Zürich, Paris und andernorts – kürzlich auf dem Theaterfestival in Neapel. Dort waren es im Sommer 2010 acht Aufführungen, die Karen Stuke im Auftrag der Festivalleitung um Renato Quaglia mit ihrer Technik ablichtete, unter anderen eine „Romeo und Julia“-Inszenierung – wie damals in Bielefeld, mit der ihre breit angelegte Werkgruppe der Theaterbilder („Opera Obscura“) fünfzehn Jahre zuvor begonnen hatte.

In Neapel können wir einige Accessoires auf den Bühnen ausmachen, die sich dort schon längere Zeit befanden, etwa ein Auto oder mehrere Orientteppiche. Im Stück „Football“ überrascht hingegen der Bühnenhintergrund: ein riesiges Metallgerüst, vor dem auf einer Leine zahlreiche Fußballtrikots hängen. Darunter erkennt man – wie in den meisten anderen Aufnahmen – ein wolkenartiges Gebilde, das aus den Bewegungen der Schauspieler während der Belichtung entstanden ist. In Stukes Theateraufnahmen steht häufig das Statische gegen das Flüchtige, eine feste Struktur gegen das Amorphe. Und das Amorph-Flüchtige kann auch aus projizierten Bildern auf dem Bühnenhintergrund bestehen, die sich in der langen Belichtung mitunter zu einer ebenso unentwirrbaren Schichtung zusammensetzen wie die Menschen davor, etwa in „Bizzara“. Der Theatervorhang am rechten und linken Bildrand konkretisiert den Ort und die räumliche Tiefe der Bühne; er wird zum Rahmen des Theaterstückes wie der photographischen Abbildung. So schauen wir – mit Blick auf Stukes visuelle Interpretation – gleichzeitig auf beides.
 

Fotos Karen Stuke: Arbeiten aus „Opera obscura di Napoli“

Arbeiten aus „Opera obscura di Napoli“

 
Schließlich entstand auch in Neapel jeweils nur eine Aufnahme, welche das konkrete Theaterstück dokumentiert und repräsentiert. Eigentlich, das kann man durchaus verraten, sind es bis zu sechs Bilder, die Karen Stuke mit verschiedenen Belichtungsstufen und aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit entsprechend bis zu sechs Loch- oder Plattenkameras, die während der langen Belichtungszeit möglichst bewegungslos auf Stativen ruhen, gemacht hat – doch jeweils nur eine Photographie blieb schließlich als die von der Künstlerin akzeptierte Essenz der Bühnenarbeit übrig. Aufführungsorte waren das renommierte Teatro di San Carlo, mit über 3000 Plätzen zeitweise das größte der Welt, die Theater Mercadante, Nuovo, Sannazaro und andere für das Festival temporär als Bühne genutzte Spielstätten.

Internationale Beachtung fand – geschickterweise während der diesjährigen Fußballweltmeisterschaft angesetzt – die Weltpremiere von „El Diego“, eine konzertante Aufführung mit Musik von Roberto de Simone und Niccolò Paganini in Kombination mit einem gigantischen Videoscreen, auf dem einige der zahlreichen Tore von Diego Armando Maradona gezeigt wurden, der zweimal mit dem SSC Neapel italienischer Fußballmeister wurde. In der Aufnahme von Karen Stuke sehen wir schemenhaft die Musiker und Sänger des Orchesters und des Chores des Teatro di San Carlo – von den Filmausschnitten der Fußballspiele hingegen nichts mehr. Die Aufnahme ähnelt inhaltlich der Arbeit ihres Berliner Kollegen Michael Wesely. Dieser belichtet häufig die gesamte Dauer eines Fußballspiels – meist im Stadion, gelegentlich auf Bildschirmen beim public viewing – mit Großbildkameras. Auch auf seinen Photographien ist wenig vom Verlauf, von der Spannung oder Langeweile des Spiels zu sehen. Durch die bewusst gewählte Länge der Belichtung zeigen Stuke und Wesely alles und zugleich nichts. Es ist, als ob sich die im Bild vielfach überlagerte Bildinformation zu einer Art Rauschen verdichtet hätte. Doch das hat es in sich: Es ist das Speichern eines Zeitverlaufs, eine zeitlich mehrdimensionale Verdichtung – in einem Bild. Gleichzeitig stecken viele Aufnahmen in dieser einen.

Auch zwei frühere Kollegen sollten hier Erwähnung finden, die wiederum in der Geschichte der modernen Theaterphotographie in Deutschland Hervorragendes geleistet haben: Rosemarie Clausen oder Chargesheimer. Sie zeigten in den 1950er und 1960er Jahren in einer Art subjektiver Dokumentation vor allem das Minenspiel der Schauspieler. Das ist heute nicht das Ziel von Karen Stuke. Außerdem existiert mit der Tanzphotographie eine eigene Gattung in der Geschichte des Mediums, und auch hier hat sich seit den 1920er Jahren die Bewegungsunschärfe zu einer zentralen Kategorie entwickelt, wie sie uns bei Stuke ebenfalls begegnet. Doch dies bleiben letztlich Nebenschauplätze. Denn ihr Wunsch nach dem ultimativen Bild einer Theaterinszenierung überstrahlt alles, obwohl die gesamte Dramaturgie des Stückes letztlich ausgeblendet bleibt oder ins Rätselhafte transformiert wird. In diesem Zusammenhang führt die Photographin in einem „artist statement“ den Begriff der „Vorstellung“ ein, der die Ebenen des Faktischen und Imaginativen, sprich: die Aufführung selbst und dasjenige, was wir sehen respektive zu sehen glauben, zusammenführt – und daraus eine neue zeitlose, überreale Kategorie erschafft.
 

Foto Karen Stuke: Diciotto Carati

Diciotto Carati
Teatro Mercadante 2010
Regisseur: Giovanni Scacchetti

 
Während es für sie an den deutschen Bühnen meist Zeit und Gelegenheit gab, bereits während der Generalproben aus dem Zuschauerraum heraus zu photographieren, musste sie beim Theaterfestival in Neapel gelegentlich während der Aufführungen – und somit inmitten des Publikums – arbeiten. So wurde auch die „Bewachung“ der Kameras wichtig, da jegliche Erschütterung das gewünschte Bildergebnis ruiniert hätte. Stukes bevorzugte Positionierung der Kamera (oder wie erwähnt gelegentlich mehrerer Kameras) ist der 1. Rang Mitte, also die zentrale Aufsicht auf die gesamte Bühne. Natürlich wählt sie stets das Querformat, da die Aufnahmen nur dann proportional der Theaterbühne entsprechen. Gelegentlich taucht die Bühnenbeleuchtung im oberen Bildfeld auf oder Teile der Bühne selbst. Sie spielt in ihren Aufnahmen mit den Methoden der Illusionsmaschinerie Theater, indem sie sie zeigt, ja geradezu betont.

Die Begeisterung für die beiden künstlerischen Ausdrucksmedien Theater und Photographie spiegelt sich auch in der Verwendung der Camera Obscura wider, denn die Pappboxen entsprechen formal einer Guckkastenbühne. Und die photographischen Abzüge präsentiert sie schließlich mit einem Distanzrahmen und verwandelt sie so in Miniaturbühnen an der Ausstellungswand.

Schließlich passen die beiden Ausdrucksformen Theater und Photographie aus einem weiteren Grund sehr gut zusammen: In beiden sind wir Rezipienten stets mit einer undurchdringbaren und irritierenden Verbindung aus Realität und Fiktion (sowie deren Spielarten) konfrontiert, die mal zur einen und mal zur anderen Seite ausschlagen kann.

Karen Stuke verfolgt mit ihren Inszenierungen der Inszenierungen einen überzeugenden, präzisen wie subjektiven Ansatz.

(Dr. Matthias Harder)
 
 
Ausstellungen:

Opera Obscura di Napoli
Fotografien von Karen Stuke
Ausstellungsdauer: 09.09.2011 bis 15.10.2011

P.A.N. – pallazzo delle arti napoli
via dei Mille 60
80121 Neapel
Italien

Opera Obscura
Fotografien von Karen Stuke
Ausstellungsdauer: 10.09.2011 bis 02.10.2011

Galleria PrimoPiano
Via Foria 118
80137 Neapel
Italien
 

Foto Karen Stuke: Gespräche der Karmeliterinnen

Gespräche der Karmeliterinnen
Bühnen der Stadt Gera 2007
Regie: Matthias Oldag, Bühne: Thomas Gruber

 
Die Künstlerin:
Karen Stuke (*1970) lebt in Berlin. Sie studierte visuelle Kommunikation, Foto/Film Design an der FH Bielefeld und machte ihr Diplom 1998 bei Gottfried Jäger. Seit 1999 arbeitet Stuke als freie Fotografin; die Arbeiten sind direkt bei der Künstlerin erhältlich: Karen Stuke.

Das Buch der Künstlerin:
Karen Stuke
Die Trilogie der schönen Zeit, oder: Warten macht mir nichts aus!
Mit Texten von Andreas Beaugrand und Gottfried Jäger
ISBN 978-3-923830-63-3
24,80 EUR

(kann über die Webseite der Künstlerin eingesehen und bestellt werden; siehe Startseite ganz unten)