Foto Gerd Kittel, Illionois, Towanda, Gas Station; aus der Serie: The Final Cut – Route 66, 1995/2000Eine gute Straßenfotografie zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass der Fotograf die Gunst der Sekunde nutzt. Er folgt der Spur des Kairos, jener griechischen Gottheit des günstigen Zeitpunktes. Ist man zu spät, verpasst man den entscheidenden Moment, dann ist alles vertan: Die besondere Sekunde kommt nicht wieder

Die Gruppenausstellung „Road Atlas“ in den Rüsselsheimer Opelvillen widmet sich auf zwei Etagen mit etwa 150 Exponaten solchen Sekundenbildern der Straße. Die DZ Bank Kunstsammlung hat ihre wertvollen Bestände nach Straßenfotografien durchforstet – herausgekommen ist dabei eine Schau, die von großer Qualität zeugt, aber zu wenige Überraschungen bietet.
 

Foto Ursula Arnold, Leipzig, Tankstellenbesitzer, 1956

Ursula Arnold, Leipzig, Tankstellenbesitzer, 1956
© Ursula Arnold

 
Die Straße ist ein mythischer Orte der Fotografie. Atget, Brassaï, Robert Frank, Lee Friedlander oder William Klein haben hier ihre besten Bilder gemacht. Bilder, die über die fotografische Sekunde hinausweisen – die zu Ikonen der Bildkunst des 20. Jahrhunderts geworden sind. Einige der kraftvollsten Bilder der Schau stammen von Helen Levitt – einer Fotografin, die sich wie kaum eine andere stets einem bestimmten Ort gewidmet hat. Die 1913 geborene Amerikanerin arbeitete stets in New York – fotografierte Straßenzüge in der Lower East Side, in der Bronx, in Harlem und Brooklyn.

Immer steht der Mensch im Mittelpunkt ihres Werks, dass zum Bedeutendsten zählt, was die „Street Photography“ hervorgebracht hat: Menschen in ihrer alltäglichen Interaktion. Eigentlich passiert in diesen Bilder gar nicht so viel: Menschen laufen über eine Straße, sehen sich an, sprechen miteinander, machen eine Lieferung, werkeln an etwas, begegnen sich, bleiben stehen. Es ist eine Poesie des Alltags, welche Levitts Schwarzweiß- und Farbfotografien bestimmt. Eine Poesie, die nicht zu verwechseln ist mit Sentimentalität: Stets stellt Levitt – die einem russisch-jüdischen Elternhaus aus Brooklyn entstammt – auch die Härten des Großstadtlebens, die Armut, deutlich aus. (Siehe auch: Poesie des Alltags)
 

Foto Barbara Klemm, Mongolei, 1992

Barbara Klemm, Mongolei, 1992
© Barbara Klemm

 
Levitts Bilder bilden den zeitlichen Anfang der Ausstellung. Vieles, was danach kommt, ist bekannt, was auch damit zu tun hat, dass die Fotografie-Sammlung der DZ-Bank vor allem in den neunziger Jahren wachsen konnte – in einer Zeit, als einige der hier gezeigten Positionen noch viel weniger durchgesetzt waren. Doch heute sehen wir diese Bilder von Fotokünstlern wie Nobuyoshi Araki, René Burri, Gregory Crewdson, Philip-Lorca diCorcia, Valie Export, Arno Fischer, Robert Häusser, Gerd Kittel, Barbara Klemm oder Will McBride anders: Seit einigen Jahren schon gehören sie zum offiziellen Kanon dessen, was man zeigt, wenn es um Straßenfotografie geht.
 

Foto Gerd Kittel, Illionois, Towanda, Gas Station; aus der Serie: The Final Cut – Route 66, 1995/2000

Gerd Kittel, Illionois, Towanda, Gas Station; aus der Serie: The Final Cut – Route 66, 1995/2000
© Fotografie Gerd Kittel

 
Kurz, es fehlen ein wenig die Überraschungen. Wundervoll natürlich die frühe Schwarzweißserie Arakis, der hier noch ganz am Anfang eines Werkes steht, das sich heute in Wiederholungen erschöpft. Oder Arnold Odermatt, der 1925 geborene Polizei-Fotograf und Vizekommandant der Nidwaldner Kantonspolizei, dessen Bilder von Auto-Karambolagen vor einigen Jahren von der Kunstwelt entdeckt wurden.
 

Foto Thomas Struth, West Broadway, New York/Tribeca, 1978

Thomas Struth, West Broadway, New York/Tribeca, 1978
© Thomas Struth

 
Die überblendeten kalifornischen Polaroids von Stefanie Schneider sind immer noch ein Augenschmaus, doch die Präsentation in Passepartouts gibt ihnen einen allzu musealen Anstricht, was ihnen nicht gut tut (siehe auch: So nah am Abgrund: Stefanie Schneider im Interview). Auch Beat Streuli und Thomas Struth sind Klassiker des Fachs und werden in vielen Ausstellungen gezeigt. So auch der 1947 in New York geborene Stephen Shore: Berühmt geworden ist er für seine Fotografien, die seit den 70er Jahren bei seinen Reisen durch die USA entstanden sind: farbige Bilder des Alltags, die noch heute faszinieren. Gemeinsam mit William Eggleston und anderen Vertretern jener „New Topographics“ avancierte Shore zu einem Protagonisten der Farbfotografie – mit Bildern, welche die USA als einen faszinierend-irritierenden Ort der Freiheit und Banalität darstellen. (Siehe auch: Im Gewöhnlichen das Besondere)

Pieter Hugo, der jüngste Künstler der Ausstellung, ist 1976 geboren, stammt aus Südafrika und ist einer der spannendsten Neuentdeckungen an der Grenze zwischen inszenierter Fotografie und Fotojournalismus. Seine Serie „The Hyena & Other Men“ stellt unter anderem die nigerianischen Hyänen-Männer vor – Männer, die jene bulligen, zähnefletschenden Tiere an imposanten Eisenketten durch die Straßen führen. „The Hyena & Other Men“ ist eine so irritierende Fotoreportage, weil sie das wundersame Miteinander von Zivilisation und Wildnis in Bilder gießt. Die jungen Männer sind Schausteller, die mit ihren Tieren unterhalten und nebenbei als Wunderheiler Medizin und Amulette verkaufen. Doch ihre Tiere haben so gar nichts Unterhaltsames an sich. Sie machen Angst. Eine Angst, die umso größer wird, weil der Ort dieses Spektakels nicht die Wildnis ist, sondern der urbane Raum.
 

Foto: Marc Peschke

Foto: Marc Peschke

 
Vor nur wenigen Exponaten steht man so lange, wie vor diesen Bildern aus Nigeria, die eine wirklich neue Sichtweise formulieren, gerade weil der Fotograf es stets vermeidet, die Szenerien theatralisch zu überhöhen. Und so ist die Rüsselsheimer Ausstellung zu verstehen: eine Bestandsaufnahme zum Thema der Straßenfotografie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das 21. Jahrhundert, die Fotokunst unserer Zeit, vermisst man in dieser Rückschau ein wenig.

(Marc Peschke)
 
 
Ausstellung:
Road Atlas. Straßenfotografie aus der DZ BANK Kunstsammlung
Stiftung Opelvillen, Zentrum für Kunst
Ludwig-Dörfler-Allee 9
65428 Rüsselsheim

Cover Raod Atlas

Mittwoch und Donnerstag 10-21 Uhr, Freitag bis Sonntag 10-18 Uhr
Bis 16. Oktober 2011

Katalogbuch zur Ausstellung:
Road Atlas
Straßenfotografie von Helen Levitt bis Pieter Hugo (bei amazon.de)
Hg. Beate Kemfert, Christina Leber
Einführung von Freddy Langer Beiträge von Hubert Beck, Adrian Giacomelli, Felix Hoffmann und Janina Vitale
Text: Deutsch / Englisch, 168 Seiten, 100 Fotografien in Farbe und Schwarz-Weiß; 24×28 cm, gebunden
ISBN 978-3-7774-3641-8
€ 34,90 (D), € 35,90 (A), SFr 47,90
 

(thoMas)