Die aktuelle Flut in Thailand, die sich vom Norden kommend in den Golf von Thailand wälzt, kam nicht unerwartet, hatte sie doch seit vielen Jahren ihre Vorläufer. So sind Überschwemmungen auch in den von Ausländern seltener besuchten Stadtteilen Bangkoks um diese Jahreszeit eher die Regel denn die Ausnahme:

Wer in trockenen Zeiten zum ersten Mal nach Bangkok kommt, wundert sich über die auffällig hohen Bordsteine, welche die Bürgersteige begrenzen. Setzt im Herbst der erste Starkregen ein, können die mit allerlei Müll blockierten Senklöcher die Wassermassen nicht fassen und die Straßen verwandeln sich in Wasserstraßen. Zu Fuß bleibt man dann sicherheitshalber auf den höher liegenden Gehwegen. Vom Wasserdruck in der Kanalisation gehobene und in der braunen Brühe nicht sichtbare Gullideckel versprechen sonst unliebsame Abenteuer.

Vorgeschichte

Dann zeigt sich jedes Jahr, dass Bangkoks Verkehrswege ursprünglich die Klongs, die Kanäle, waren, welche in großer Anzahl die Stadt durchzogen und zur Regenzeit die Wassermassen aus dem Hinterland abführen konnten. Als sich jedoch die Stadt der Engel in den 1970er Jahren die US-amerikanische Stadt Los Angeles zum Vorbild der eigenen Entwicklung nahm, wurden viele Klongs mit Betonplatten abgedeckt oder gleich ganz zugeschüttet. Kaum einer hatte diese Entwicklung bedauert. Versprach sie doch Entwicklung und Fortschritt für Viele. Was in früheren Jahren als das „Venedig des Ostens“ bekannt war, sollte eine autogerechte Stadt werden. Etwa 1500 PKWs wurden noch in den 1990er Jahren Tag für Tag in Bangkok neu angemeldet und verstopften die Straßen. Vereinbarte Besprechungstermine waren nur grobe Absichtserklärungen. Wer sich auskannte, nutzte die Motorradtaxis, die an vielen Straßenecken zu finden sind, und die sich mehr oder weniger elegant durch die Staus winden können, wobei die Kniescheiben der Passagiere jedoch manchmal schmerzhaft mit den ausladenden Außenspiegeln der umfahrenen PKWs kollidieren. Oder er steigt gleich in eines der Linienboote, welche mit atemberaubender Geschwindigkeit in den größeren Klongs verkehren.

Dass man nun in der Not, auf den Trassen vorhandener Straßen, wieder Kanäle errichten will, um die Wassermassen ins Meer abzuführen, verblüfft da wenig: Froc floats road drainage plan (Bangkok Post). Ob das in der gebotenen Eile jedoch gelingt, erscheint durchaus fraglich, wenn sich bis zu zwei Kilometer breite Wasserschneisen durch die Vororte von Bangkok ziehen sollen. Größere Realisierungschancen haben da die geplanten Durchstiche durch den Bangkok-Chon Buri Motorway und die Bang Na-Trat. Die binnen dreier Tage realisierbaren Öffnungen sollen mit Behelfsbrücken überwunden werden.

Die für den 30. und 31. Oktober und für den 10. November erwarteten Springfluten im Golf von Thailand setzen dem Ableiten der Wassermassen dabei ein ziemlich enges Zeitfenster.

Während große Teile Bangkoks noch immer von der Flut bedroht oder schon unter Wasser sind, wird das Trinkwasser in den Geschäften knapp. Auch Milch und andere Grundnahrungsmittel fehlen, weil die Produktionsbetriebe oder die Distributionslager unter Wasser stehen oder die Verteilung nicht mehr funktioniert, weil die Straßen blockiert sind. Da hilft es nur bedingt, wenn Softdrinkhersteller jetzt ihre gesamte Produktion auf Trinkwasser umstellen. Vorteilhafter ist da die in den vergangenen Jahren vollzogene Dezentralisierung der Getränkeproduktion weg von Bangkok in Regionen, deren Bevölkerung über über eine zunehmende Kaufkraft verfügt. Ob die Vorräte an leeren Flaschen ausreichen, ist derzeit jedoch nicht absehbar, sind doch beispielsweise die der Glasflaschenhersteller Ayuthaya Glass sowie des PET-Flaschenproduzenten Vissie Pak ebenso wie der Ettikettenhersteller XYP B im Rojana Industrial Park von Ayutthaya derzeit aufgrund der Flut außer Betrieb.

Santi Bhirom Bhakdi, der Präsident der Singha-Brauereien, zu welchen die vorgenannten Firmen gehören, erwartet, dass die betroffenen Betriebe seiner Gruppe in drei bis vier Monaten die Produktion wieder aufnehmen können. Er wird in „The Nation“ mit der Aussage zitiert, dass er damit rechne, dass die Wassermassen erst zu Beginn des kommenden Jahres abgeflossen sind und dass der komplette Wiederaufbau in den zerstörten Regionen zwei Jahre dauern könne. Für bis zu tausend Unternehmen könnte die Flut das Ende bedeuten und für eine Million Beschäftigte den Verlust ihrer Arbeitsplätze (siehe auch: Singha expects plants to resume in four months).

Ursachen

Wie konnte es zu diesem nicht nur für Thailand extremen Desaster kommen? Für die ganze Region waren für die aktuelle Jahreszeit überdurchschnittlich große Regenmengen vorausgesagt worden und es wäre sinnvoll gewesen, den Wasserspiegel in den zahlreichen Stauseen im Land frühzeitig abzusenken, um genügend Auffangkapazitäten für die erwartbaren Fluten bereitzuhalten. Allein, dies geschah nicht. Dass es im September eine ausdrückliche Anweisung eines Ministers gab, genau das nicht zu tun, weil er sicherstellen wollte, dass die Bauern in Zentralthailand über einen Überfluss an Wasser verfügen, zählt zu den vielen Gerüchten, die derzeit durch das Land wabern. In einem Land, in dem Realität und Fiktion untrennbar miteinander verwoben sind, wird sich der genaue Hergang wohl nie nachverfolgen lassen. Wo es traditionell praktisch keinen Unterschied zwischen Realität und Fiktion gibt, werden im Zweifelsfall auch vollständig unrealistische Lösungen nicht nur erwartet, sondern gewissermaßen sogar vorausgesetzt.

Die allabendlichen Fernsehserien zeigen, wie Probleme, die mit der Faust ode der Waffe nicht lösbar sind, mit Hilfe übernatürlicher Kräfte bewältigt werden können. Rein filmstrategisch lassen sich so die eingesetzten Charaktere mit Hilfe der Zauberkräfte länger nutzen, da sie in den abendlichen Schießereien nicht so schnell verloren gehen. Darüber hinaus erfüllen diese Eigenschaften auch die Wünsche und Träume der Zuschauer, die oftmals zu glauben scheinen, mit dem Kauf und der Applikation der Tatoo-artigen Abziehbilder über ähnliche Kräfte zu verfügen. Auch wenn die langsam bessere Schulbildung die Wirkung dieses Wunderglaubens langsam zurückgehen lässt, fallen viele in Krisenzeiten wieder darauf zurück. In einem Umfeld, das durch ein kaum überwindbares Kastensystem und ein beachtliches Gewaltpotential geprägt ist, bieten sich solche Fluchten aus der realen Welt als gangbare Lösung an.

Dass Ausländer am Geldautomaten über Glückszahlen verfügen müssen, weil sie auch in der zweiten Monatshälfte noch Geld abheben können, während viele Thais mit großen Augen ihre Bankkarte ohne Geld wieder zurückbekommen, ist eine vielfach erzählte Episode. Geld ist in dieser streng hierarchisch organisierten Gesellschaft, die keinen Widerspruch duldet, die einzige Möglichkeit, aus der vorhanden zwanghaften Struktur auszubrechen. Für entsprechend viel Geld ist man bereit, alle sonst streng gehüteten Vorstellungen über Bord zu werfen.

Mit der zunehmenden Industrialisierung des Landes ab den 1980er Jahren und der Etablierung von Industrial Parks mit ihrem übergroßen Bedarf an fleißigen Arbeitskräften und lokalen Zulieferern kam ein zunehmender Teil der Bevölkerung zu einem zumindest bescheidenen Auskommen und kaum jemand musste in der Folge noch Hunger leiden, was gerade im Nordosten mit dem dort vorherrschenden stärkereichen Klebreis zu einer geradezu explodierenden Anzahl von Diabetikern führte.

Zu bescheidenen Wohlstand kamen jedoch gerade in den ländlichen Räumen nur Familien, die mindestens eine Tochter gegen ein gutes Brautgeld verheiraten konnten. Wurde in der Vergangenheit in den Dörfern des Nordostens ein Steinhaus gebaut, verdiente mit ziemlicher Sicherheit eine Tochter der Familie ihr Geld als Bargirl. Heute sind die Bauherren meist ausländische Rentner, die hier mit ihren thailändischen Frauen ihren Lebensabend verbringen wollen. Der wirtschaftliche Einfluss der mit Ausländern verheirateten Thais nimmt weiter zu und beträgt wohl inzwischen etwa 15 % des Bruttosozialprodukts. In der aktuellen Krise könnte dieser Wirtschaftssektor dem Land noch massiver helfen als zuvor.

Ein grundsätzliches regionales Problem lässt sich jedoch auch damit nicht lösen: Kausalzusammenhänge werden in der Regel nur dann akzeptiert, wenn die Folge unmittelbar sichtbar ist oder wenn eine übergeordnete Person sie klar und deutlich feststellt. Deren Meinung wird zumindest der Form nach normalerweise akzeptiert. Dies stellt jedoch in der Praxis auch keine absolute Sicherheit dar. In einer „Sowohl-als-auch-Gesellschaft“ sind vollständig gegensätzliche Positionen zur selben Zeit kein Problem. Was gestern feierlich versprochen wurde, muss weder heute noch morgen noch so gelten, wenn ich mir inzwischen aufgrund einer möglicherweise geänderten Konstellation dann einen größeren Vorteil erhoffe. Im zirkularen Denken bekomme ich im nächsten Durchgang eine erneute Gelegenheit und so kann es sinnvoll sein, etwas jetzt nicht zu tun, weil es später eine bessere Gelegenheit dazu geben könnte.

So waren die Speicherseen im Hinterland aufgrund der überdurchschnittlichen Niederschläge zum Bersten gefüllt. Dennoch kam niemand auf die Idee, sukzessive Wasser abzulassen, um Speichervolumen für den Fall vorzuhalten, falls der Starkregen anhalten sollte. Auch derzeit ist beispielsweise der Stausee des Ubonrat-Damms über seine normale Menge gefüllt. Sonst 500 Meter vom Ufer entfernt liegende Restaurants stehen seit Wochen unter Wasser und ein Sinken des Wasserspiegels ist derzeit nicht wahrnehmbar. Auch diese Überkapazität muss in den nächsten Wochen ins Meer abgeführt werden, was die Hoffnungen auf ein baldiges Ende der Fluten nicht gerade erhöht. Aufgrund der fehlenden Vernetzung der Informationen aus den einzelnen Gewässern und der nicht vorhandenen Gesamtschau der zusammenhängenden Gewässersysteme sind die möglichen Konsequenzen jedoch praktisch nicht vorhersehbar.

Auswirkungen

Vorhersehbar sind allerdings in zunehmendem Umfang die Auswirkungen der Schließung der inzwischen sieben überfluteten Industrieparks. Obwohl man im derzeit ein Meter unter Wasser stehenden Rojana Industrial Park inzwischen mit der Drainage der Wassermassen beginnen will, ist eine Wiederaufnahme der Produktion nicht absehbar, weil auch ein Großteil der Straßenverbindungen unterbrochen ist und viele Beschäftigte, wenn sie überhaupt noch in der Region sind, für den Wiederaufbau ihrer Häuser sorgen müssen.

Nikon konnte am 21. Oktober noch nicht abschätzen, wie lange die Produktionsunterbrechung dauern wird. Sony will die Produktion der NEX-7 an einen anderen Standort verlegen. Hilfreich könnte für die betroffenen japanischen Unternehmen sein, dass sie ihre Produkte traditionell in Japan entwickeln, so dass die spezifischen Fertigungsunterlagen, im Gegensatz zu den Fertigungsstätten, weiterhin verfügbar sind.

Die Überflutung der Fabrik in Bankadi, wo Sony einen Großteil seiner Sensorproduktion konzentriert hat, trifft neben dem Unternehmen selbst auch Kunden wie Nikon und Apple (iPhone 4s). Ob die Sensorfertigung am bisherigen Standort wieder aufgenommen werden kann, erscheint fraglich, da die dazu benötigten Reinraumbedingungen nicht mehr gegeben sind und möglicherweise die gesamte Produktion neu aufgebaut werden muss. Da Sony auch ein wichtiger Lieferant von Displays ist, sollen inzwischen auch weitere Unternehmen wie Canon mit Produktionsverzögerungen im Kamerabau rechnen.

Die Flut in Thailand ist inzwischen nach dem Erdbeben vom 11. März 2011 schon der zweite Schlag innerhalb eines Jahres, der die Fotoindustrie trifft. Wenn es nicht gelingen sollte, bald alternative Produktionsstandorte zu etablieren, wird dies entlang der gesamten Lieferkette Auswirkungen haben. Händler, die keine Kameras liefern können, haben nur geringe Zukunftsperspektiven. Und dieses Mal sind auch weitere Sektoren der elektronischen Industrie massiv betroffen. Praktisch alle Festplattenhersteller produzieren in Thailand oder beziehen zumindest Komponenten von hier. Bei den gewaltigen betroffenen Stückzahlen kann die aktuelle Situation ganze Industriezweige strangulieren. Wahrlich keine schönen Aussichten im Vorfeld des globalen Weihnachtsgeschäfts.

(CJ)