Foto Miron Zownir, Lodz, 2011Die Menschen, de uns Miron Zownir zeigt, leben und sterben, wie es heute niemand müsste:

Die Menschen aus Miron Zownirs Fotografien bevölkern eine Art Zwischenwelt, eine Welt zwischen Leben und Tod. Sie sind in vielerlei Hinsicht beschädigt. Ihre Schäden, die sie im Laufe ihres Lebens erlitten haben, sind das Ergebnis eines schlechten Lebens, eines Lebens unterhalb der Möglichkeiten des Standes der Produktivmittel. Durch Armut, Obdachlosigkeit, Gewalt, soziale Kälte, Alkoholismus und körperliche Versehrtheit werden sie zugrunde gerichtet.

Sie leben und sterben, wie es heute niemand müsste. Sie leben und sterben, als gäbe es die gigantische Warenansammlung, von der Karl Marx schreibt, nicht. Sie leben und sterben, als gäbe es keine Wohnungen, Krankenhäuser, Prothesen, Kleidung und Nahrungsmittel. Ihr Leid ist nicht nur ohne Sinn, es entbehrt jedwede Notwendigkeit.
 

Foto Miron Zownir, Bulgarien, 2009

Miron Zownir, Bulgarien, 2009
 
 
Foto Miron Zownir, Sankt Petersburg, 1995

Miron Zownir, St. Petersburg, 1995

 
Viele seiner Protagonisten hat Miron Zownir in U-Bahnhöfen erwischt. Dort hausen sie, im Stich, aber auch in Ruhe gelassen. Hin und wieder stößt Miron Zownir dort auf Leichen, einige besucht er regelmäßig über Tage hinweg. Außer dem Fotografen gibt es niemanden, der sich für die toten Körper zuständig fühlt. Sobald die Sicherheitskräfte den Fotografen bemerken, beginnen sie sich für ihn zuständig zu fühlen. Sind die Eingänge der U-Bahnhöfe die offenen Wunden von Moskau und St. Petersburg?

Anstelle von Symbolik hat man es hier mit etwas zu tun, das mit Dietmar Dath Drastik zu nennen wäre. Die Bilder sind das Ergebnis kurzer und heftigen Auseinandersetzungen zwischen Menschen, dem Fotografen und den Fotografierten. Die Fotografierten stoßen dem Fotografen zu, aber auch der Fotograf widerfährt den Fotografierten. Er sieht sie, während sie sehen, dass er sie sieht. Dann merken sie, dass es der Fotograf ist, der sie als letzter lebend sieht. Ihre Augen sind leer, aber sie sind auf ihn gerichtet. Einige seiner flüchtigen Straßenbekanntschaften bringen sich für ihn in Pose, einige zeigen ihm etwas.

Diese Spannungen, die zwischen dem Fotografen und den Portraitierten bei ihrem flüchtigen Zusammentreffen entstehen, sind den Fotografien anzusehen. Der Fotograf ist kein stiller Beobachter, kein neutraler Dokumentarist und nur selten ein heimlicher Voyeur. Er beansprucht seinen Platz in nahezu jedem seiner Sujets und ist in jedem Bild spürbar anwesend. 

Foto Miron Zownir, Lodz, 2011

Miron Zownir, Lodz, 2011
 
 
Foto Miron Zownir, Moskau, 1995

Miron Zownir, Moskau, 1995

 
Zownirs Fotografien wirken verstörend. Ganz gleich, ob es sich dabei um die Prostituierten an den Sex-Docks im New York der späten frühen 80er oder um alkoholkranke Obdachlose im heutigen Kiew handelt – erschreckend wirkt die Distanzlosigkeit, mit der der Fotograf seinen Modellen gegenüber tritt; erschreckend wirkt die Distanzlosigkeit, mit der dann schließlich ein Mensch dem Bildbetrachter begegnet, man könnte sagen: zustößt.

Radek Krolczyk
 
 
Ausstellung:
Miron Zownir
Offene Wunden – Bilder aus dem freien Osteuropa
19. Januar 2013 bis 22. Februar 2013

Zentrum Aktuelle Kunst
Alexanderstraße 9b
28203 Bremen

Öffnungszeiten
Donnerstag – Freitag, 16 – 19 Uhr; Samstag, 13 – 17 Uhr und nach Vereinbarung

Zur Ausstellung erscheint ein Katalog bei mox & maritz.
 

Foto Miron Zownir, Moskau, 1995

Miron Zownir, Moskau, 1995