Wem gehören die RAW-Daten wirklich? Haben wir tatsächlich die freie Verfügung über alle Daten, wie sie vom Sensor geliefert werden, oder greift die Formel vom „digitalen Negativ” doch zu kurz?

„…it’s another raw format that photoshop and dcraw can read.”
(Dave Coffin über DNG)

Wirft man einen Blick in Foto-Fachmagazine, scheinen Fragen wie diese vorrangig: Wann kommt das nächste Kameramodell mit Vollformat-Sensor bzw. höherer Megapixelzahl? Welche Wechselobjektive werden qualitativ dazu „passen”? Seltener: Werde ich meine jetzige Kamera als Zweitgerät behalten und mit ihr weiterhin RAW-Bilder schießen – und später „entwickeln” – können? Was ist mit meinen archivierten RAW-Dateien? Werde ich diese auch in einigen Jahren noch bzw. wieder neu bearbeiten können?

Grabenkämpfe von gestern
Es ist merkwürdig still geworden um die Problematik der RAW-Formate, obwohl 2005/06 zwischen Befürwortern des gerade von Adobe präsentierten DNG-Formats (nebst DNG-Konverter) und den Streitern für einen universellen, offenen Standard (OpenRAW-Gruppe) eine hitzige Debatte stattfand und Letztere eine Umfrage unter 19.000 Fotografen durchführten, die Erwartungen an die Hersteller bezüglich eines offenen und zukunftssicheren RAW-Dateiformats zum Gegenstand hatte. Die einen, nennen wir sie die DNG-Fraktion, warfen den Kritikern Angst- und Miesmacherei vor; jene wiederum revanchierten sich, indem sie den anderen Parteigängerei für Adobe und die Interessen der großen Kamerahersteller unterstellten.

Und dann bildete sich die Position der Pragmatiker heraus, vertreten etwa durch Michael Reichmann, Peter Krogh oder Uwe Steinmueller, die das Anliegen der OpenRaw-Verfechter grundsätzlich auch weiterhin befürworten, aber dafürhalten, dass das DNG-Format unter Adobes Schirmherrschaft besser als nichts ist. Auf jeden Fall besser als ein Wust von proprietären RAW-Formaten, den die Hersteller mit jedem neuen Kameramodell vergrößern.

Wobei es dann schon einmal passieren kann, dass es etwa in Microsofts Vista WIC Codec keine Unterstützung für Canons überholtes CRW-Format gibt (D30, D60, 10D, 300D), weil es die Weltfirma halt so beschlossen hat. Mitunter können RAW-Daten auch nach einem Firmware-Update der Kamera von einigen Fremdkonvertern nicht mehr gelesen werden (40D).

„Mein Bild gehört mir”
Derlei Unkalkulierbarkeit provoziert Widerstand, den ein Teilnehmer eines Nikon-Forums so resümierte: „Mein Bild gehört mir”. Da wurde ein großes Wort am rechten Ort gelassen ausgesprochen – nur, was ist mit „meinem digitalen Bild” gemeint? Und sind wir durch den DNG-Standard, von Adobe auch plakativ und ungenau als „digitales Negativ” propagiert, bereits vor undurchschaubaren Hersteller-Entscheidungen und Machenschaften sicher?

Es gibt hinreichend Belege dafür, dass dem nicht so ist. Wenn auch mittlerweile viele RAW-Konverter und Bildbearbeitungssoftware von Drittanbietern DNG unterstützen und zahlreiche proprietäre RAW-Formate lesen können, wenn auch Adobes Camera Raw-Modul mittlerweile über 150 Kameras abdeckt und sogar einige Kameramodelle Raw-Daten gleich im DNG-Format abspeichern können, hat sich am grundsätzlichen Konflikt nicht so viel geändert.

Manipulation und Misstrauen
Ben Long, Buchautor und Website-Betreiber, stellte jüngst in einem Web-Essay die Frage: „Nikon Compressed Raw Format – Lossy or Lossless?” und trifft damit genau ins Schwarze: Eine RAW-Datei darf zwar zur Schonung von Kartenspeicher-Ressourcen komprimiert sein, aber sie sollte doch alle vom Sensor gelieferten Rohdaten vollständig und unverfälscht enthalten. Damit steht und fällt schließlich die Idee der „nicht-destruktiven” Rohdaten-Bearbeitung.

Manipuliert aber Nikon die Daten und lässt die Fotografen im guten Glauben, sie allein seien „Besitzer” ihrer Bilddaten und nur sie könnten im Prozess der RAW-Bearbeitung entscheiden, welche RGB-Farbwerte wie interpoliert, welche Daten wie verändert bzw. verworfen werden sollen (etwa durch Konvertierung in den 8-Bit Modus)? Was also tut Nikon? Nikon hüllt sich in Schweigen, ebenso wie Adobe und Apple.

Ben Long begibt sich daraufhin in die eigentlich nicht-legale Grauzone und bittet einen netten jungen Mann um eine Datenanalyse und Stellungnahme. Nicht irgendeinen, sondern Dave Coffin, den größten Bildrohdaten-Cracker aller Zeiten, der seit 1997 mit SoftICE und viel Geduld die RAW-Dateien diverser Kamerahersteller per „reverse engineering” entkomprimiert, entschlüsselt und enträtselt, den besten Kommandozeilen-Konverter dcraw entwickelt hat und dessen ANSI C-Code in den meisten kommerziellen oder freien RAW-Konvertern auch renommierter Firmen wie Adobe steckt. Coffin bestätigt, dass Nikon tatsächlich Rohdaten verschwinden lässt und Farbwerte pusht, dass aber alle anderen Firmen dazu schweigen, weil sie sich als Abnehmer von gehacktem Code auf unsicherem Terrain bewegen und keinen Ärger riskieren möchten.

Zurück zu der Forderung „Mein (digitales) Bild gehört mir”? Nimmt man Bilder im RAW-Modus auf, überlässt man die Konvertierung der Sensordaten in standardisierte Formate wie JPEG oder TIFF nicht dem Kameraprozessor und gibt sich auch nicht mit den vom Hersteller angebotenen Parametern für Gammakorrektur, Weißabgleich, Helligkeit, Sättigung, Schärfe, Rauschen, Farbtemperatur u.ä. zufrieden. Stattdessen braucht man bei der Aufnahme nur für die Einstellung der Sensorempfindlichkeit, Blende und Verschlusszeit zu sorgen. Alle anderen bereits genannten Werte werden nach der Aufnahme an einem leistungsfähigen Rechner im Konvertermodul eingestellt, das den Transfer der gespeicherten Rohdaten in ein standardisiertes Format unterstützt – mit 8- oder 16-Bit Farbtiefe pro Farbkanal.

Freie Verfügung über alle Sensordaten?
Haben wir aber tatsächlich die freie Verfügung über alle Daten, wie sie vom Sensor geliefert werden, oder greift die Formel vom „digitalen Negativ” zu kurz? Richtiger wäre es wohl zu sagen, dass eine RAW-Datei – analog zu dem von Adobe betreuten TIFF-Standard – aus Bilddaten sowie Metadaten besteht, in denen (auch verschlüsselte) Hersteller-Informationen zur Interpretation der Bilddaten untergebracht sind.

Verteidiger des DNG-Standards wie Barry Pearson und auch Adobe in einer späteren Stellungnahme relativieren den Begriff des „digitalen Negativs” und sprechen eher von RAW-Daten als „latenten Bildern”, die noch gar nicht „entwickelt” wurden. Eine RAW-Datei besteht aus rohen Farbwerten unterschiedlicher Intensität, die – bedingt durch das Zusammenspiel des CCD- oder CMOS-Bildsensors mit dem Bayer-Filter – noch gar keine RGB-Farben sind, sowie den Metadaten. Jeder Pixel registriert nur den Anteil einer Farbe – Rot, Grün oder Blau -, und die RGB-Farben entstehen erst durch Interpolation im RAW-Konvertermodul.

Was die Hersteller alles in den Metadaten und MakerNotes verstecken – diese enthalten ja wichtige Steuerungsinformationen -, bleibt letztlich sowohl dem Master-Cracker Dave Coffin wie auch Adobe und anderen Konvertersoftware-Anbietern verborgen, denn Ersterer erschließt die Metadaten der proprietären Rohdateien nur soweit, wie er meint, dass dies für die Dekodierung der Bilddaten wichtig ist. Der Rest ist für ihn uninteressant und landet auf dem „Müll”. Genau genommen sind also auch weiterhin für jeden Digitalfotografen die RAW-Dateien nur teilweise zugänglich, dies zeigt die Entdeckung, dass Nikons RAW-Daten nicht verlustfrei komprimiert und die Farbwerte manipuliert sind.

Auch das vom Adobe-Mitarbeiter Thomas Knoll nachgelieferte Tool „DNG Recover Edges” zeigt einem mit verblüffender Offenheit, wie viele zigtausend Randpixel einer nach DNG konvertierten RAW-Datei vor dem Verschwinden ins Nirwana gerettet werden können.

Vieles spricht dafür, dass die Rohdaten bereits interpretierte Daten sind, und für J. Specht von OpenRAW soll die Geheimniskrämerei der Kamerahersteller verbergen helfen, wie sehr die Daten aufbereitet („post processed”) sind. Und da soll man nicht misstrauisch bleiben?

„…den Vorhang zu und alle Fragen offen.“
Solange die Dekodierung der Bilddaten, genau genommen, ein illegaler Akt ist, solange die großen Kamerahersteller die Entwicklung von Drittanbieter-Software behindern, deren innovative und leistungsfähige Produkte den Fotografen oft zu qualitativ besseren Bildern verhelfen können als die Original-Software der Hersteller, steckt die Digitalfotografie noch in den Kinderschuhen.

Jede Berücksichtigung eines neuen Kameramodells mit einer je eigenen, undokumentierten, wie auch immer modifizierten, proprietären Raw-Dateistruktur kostet die Drittanbieter von Konverter-, Bildbearbeitungs- und -katalogisierungssoftware unnötig viel Zeit und Geld; das Versprechen, jeder könne unumschränkt die Kameradaten jetzt und in Zukunft als sein Eigentum betrachten und getrost archivieren, wird so nicht erfüllt.

Zugegeben, mit DNG hat Adobe einen offenen Standard geschaffen, der auch in Zukunft wohl – selbst wenn es die Firma Adobe nicht mehr geben sollte – Zugang zu den konvertierten Rohdaten erlauben wird; aber auch Adobe rät implizit zur Vorsicht und ermöglicht bzw. empfiehlt die speicherhungrige Lösung der vollen Einbettung der Original-Rohdatei. Dieses „Babuschka-Prinzip” erinnert daran, dass da noch Geheimnisse im Inneren schlummern können, die letztendlich die Hersteller dort versteckt haben, dass die Kamerahersteller weiter im Eigeninteresse Geheimniskrämerei betreiben und DNG nicht im originären und vollen Wortsinn ein offener Standard ist.

Zu diesem Ergebnis kommt man auch innerhalb der Sektion Wissenschaft und Technik der DGPh. Ob der Druck der Käufer auf die Hersteller eine wirkliche Offenlegung und Standardisierung herbeiführen kann, ist allerdings fraglich. Die bemühen sich eher um die Vergrößerung ihrer Marktanteile und profitable Innovationen.

Falls es ein Trost ist: Kamerasensoren liefern eigentlich nur Informationen für Graustufenbilder – dass wir uns alle im Umgang mit den undurchsichtigen Megapixel-Paketen auch weiterhin in einer Grauzone bewegen, wäre dann nur stringent.

(Bernd Schäbler)

Lektüre zum Thema:
Adobe Whitepapers: Introducing the Digital Negative Specification; PDF-Datei
DGPh – Vortragsforum der Sektion Wissenschaft und Technik: Standardisierung, Archivierung, Innovation
Digital Photography Review: Interview with Dave Coffin
Bruce Fraser: Understanding Digital Raw Capture; PDF-Datei
Peter Krogh: Non-Destructive Imaging: An Evolution of Rendering Technology; PDF-Datei
Ben Long: Nikon Compressed Raw Format – Lossy or Lossless?
Barry Pearson: DNG articles and links
Michael Reichmann/Juergen Specht: The Raw Flaw
Thomas Walter: Mediafotografie analog & digital. Berlin, Heidelberg, New York, 2005. S. 75-130.