Pionier mit Trompete, 1930, Foto Alexander Rodtschenko„Wir müssen unser optisches Erkennen revolutionieren. Wir müssen den Schleier von unseren Augen reißen … Es sieht so aus, als könne nur der Fotoapparat das moderne Leben abbilden“

Alexander Michailowitsch Rodtschenko, 1891 in Sankt Petersburg geboren, war ein Universalgeist: einer, der sich ganz selbstverständlich in den verschiedensten künstlerischen Gebieten ausdrücken konnte. Für ihn gehörte alles zusammen: Er arbeitete als Maler, noch im zaristischen Russland, wo er an der Kunsthochschule von Kasan studierte. Anfangs noch vom Jugendstil beeinflusst, schließt er sich bald der russischen Avantgarde an: Er besuchte Lesungen der Futuristen, studierte später Bildhauerei und Architektur in Moskau.
 

Rodtschenko fotografiert im Kulturpark; Foto von A. Skurikhin

Rodtschenko, fotografiert im Kulturpark; Foto von A. Skurikhin, 1932. © A. Rodtschenko Archiv / VG Bild-Kunst, Bonn 2008

 
1916 tritt er als Künstler an die Öffentlichkeit – zeigt abstrakt-konstruktivistische Malereien und Zeichnungen. Später beginnt er „Raumkonstruktionen“ zu schaffen, räumlich-geometrische, kinetische Skulpturen aus Pappe und Holz, um sie nach der fotografischen Dokumentation zu zerstören. 1921 verfasste er ein Manifest über das Ende der Tafelmalerei, um schließlich als Werbegrafiker, Illustrator, Typograf, Bühnen- und Kostümbildner und Kunsthandwerker zu arbeiten. Die Kunst sollte, so Rodtschenko, endlich die Museen und Galerien verlassen und zu den Menschen kommen.
 

Treppe, 1930, Foto Alexander Rodtschenko

Treppe, 1930. Künstlerabzug, Privatsammlung. © A. Rodtschenko Archiv / VG Bild-Kunst, Bonn 2008

 
Jetzt erinnert eine große Ausstellung des „Moscow House of Photography“ im Berliner Martin-Gropius-Bau an das weitreichende fotografische Werk des 1956 in Moskau verstorbenen Rodtschenko, der einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der russischen Fotografie leistete. Über erste Fotomontagen entwickelte er seine konstruktivistische Fotografie – um später auch als Reportage- und Sportfotograf zu arbeiten. „Die Zukunft ist unser einziges Ziel“ sagte Rodtschenko einmal. Und sein fotografisches Werk war ein Bruch mit Vergangenem: „Neues Sehen“ – das war das Schlagwort jener Jahre.
 

Mädchen mit einer Leica. 1934, Foto Alexander Rodtschenko

Mädchen mit einer Leica. 1934. Künstlerabzug, Privatsammlung. © A. Rodtschenko Archiv / VG Bild-Kunst, Bonn 2008

 
Seit 1924 entstanden – zumeist mit einer Leica – Porträts seiner Familie und von Künstlerfreunden wie Wladimir Majakowski, schon bald aber auch Bildzeugnisse der großen nach-revolutionären Veränderungen in Moskau, von denen vor allem die Serie „Häuser in der Mjasnitzkaja-Straße“ bekannt geworden ist. Kühne, gekippte Perspektiven, ungewöhnliche Bildausschnitte, perspektivische Verkürzungen, Auf- und Untersichten des dynamischen, chaotischen urbanen Lebens prägen seinen fotografischen Stil, wie Rodtschenko 1928 erklärt: „Wir müssen unser optisches Erkennen revolutionieren. Wir müssen den Schleier von unseren Augen reißen … Und die interessantesten Blickwinkel der Gegenwart sind die von oben nach unten und von unten nach oben und ihre Diagonalen“. Vor allem der Blick von oben faszinierte Rodtschenko: Er fotografierte Bildserien von Balkonen, von Dächern, aus Fenstern. Schwindelerregende Blickwinkel. Sogar vom Giebel des Bolschoi-Theaters fotografierte er.
 

Feuerleiter (mit einem Mann). Aus der Serie „Häuser in der Mjasnitzkaja-Straße“. 1925, Foto Alexander Rodtschenko

Feuerleiter (mit einem Mann). Aus der Serie „Häuser in der Mjasnitzkaja-Straße“. 1925. Privatsammlung. © A. Rodtschenko Archiv / VG Bild-Kunst, Bonn 2008

 
Rodtschenkos Forum war vor allem die Zeitschrift „LEF“ und später „Novy LEF“: Hier schrieb er auch die denkwürdigen Zeilen: „Die moderne Stadt mit ihren vielgeschossigen Häusern, die Werksanlagen, Fabriken … hat notwendigerweise die überkommene Psychologie der Wahrnehmung um einiges verändert. Es sieht so aus, als könne nur der Fotoapparat das moderne Leben abbilden.“
 

Politisches Fußballspiel, 1930, Foto Alexander Rodtschenko

Politisches Fußballspiel, Fotomontage für die Zeitschrift Za rubezhom, 1930. Privatsammlung. © A. Rodtschenko Archiv / VG Bild-Kunst, Bonn 2008

Das Pärchen, 1932, Foto Alexander Rodtschenko

Pionier mit Trompete, 1930, Foto Alexander Rodtschenko

 
Die von Olga Swiblowa – der Direktorin des „Moscow House of Photography“ – zusammengestellte Ausstellung zeigt die vielen Gesichtspunkte des fotografischen Werks eindringlich: die Arbeit als Dokumentarfotograf, die Experimente mit der Farbfotografie nach dem zweiten Weltkrieg, die frühen Fotomontagen, die Porträts – unter anderem auch einige Arbeiten aus dem Nachlass, die noch nie zu sehen waren. Und die Schau erinnert schließlich auch daran, wie es zur immensen Kritik an Rodtschenkos Arbeit kommen konnte – zu jenem sogenannten „Formalismusstreit“, der am Beispiel des 1930 fotografierten „Pionier mit Trompete“ ausgefochten wurde: Kritiker bemängelten an jenem untersichtigen Porträt das vollkommene Fehlen des Narrativen – einen zu einseitigen Formalismus. Zur Ausstellung liegt ein Katalog vor.

(Marc Peschke) 
 
 
 
 
Ausstellung:
Alexander Rodtschenko
Martin-Gropius-Bau Berlin
Mittwoch bis Montag 10 bis 20 Uhr
bis 18. August 2008
 

Titelabbildung Alexander Rodtschenko

 
 
Katalog:
Herausgeber Berliner Festspiele
Herausgeber Haus der Fotografie Moskau
Alexander Rodtschenko (bei amazon.de)
224 Seiten; 230 Abb. im Duotone, 34 farbige Abb.; 23,5 x 29 cm
gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 10: 3-89479-488-7
ISBN 13: 978-3-89479-488-0
Ausstellungsausgabe € 30,– (ISBN 978-3-89479-487-3)
Buchhandelsausgabe € 39,90 (ISBN 978-3-89479-488-0)