In der Flut monatlich erscheinender Fotobücher gibt es gar nicht so oft solche, die über das Mittelmaß, das schon oft Gesehene hinausragen. Solche Bände sind selten: Bücher, die man mit Lust durchblättert, deren Bildsprache erstaunt, die uns in Bann ziehen. In diesem Winter sind einige solcher Bücher erschienen; Fotobücher, die eines eint: Sie sind beseelt durch schöpferische Kraft, sind originell – sehen mit wachen Augen in die Welt:

 

Titel Bert Jäger als Fotograf

 
Das erste dieser Bücher ist im Freiburger Modo-Verlag erschienen und stellt den 1919 geborenen Karlsruher Künstler Bert Jäger als Fotograf vor. Als Maler des Informel und abstrakten Expressionismus ist er bekannter, doch als Fotograf eine wunderbare Überraschung: Vor allem in Italien hat Jäger fotografiert, in Ligurien, Apulien oder in Rom. Dazu hat er Erzählungen und Romane geschrieben – und auch sein fotografisches Werk ist Poesie: Bilder aus den 50er und 60er Jahren, die den Menschen in den Fokus rücken. Es ist eine behutsame Art der Straßenfotografie, die Jäger zum eigenen Stil ausbildet. Er zeigt Kinder, Passanten in Dörfern und Städten, an der Grenze zwischen Subjektivismus und Dokumentarismus – die erste Publikation, die sein fotografisches Werk vorstellt.

Auch Andrea Stappert widmet sich in ihrem bei Kerber erschienenen Buch dem fotografischen Porträt. „Under the Radar“ versammelt Bilder, die seit 1985 bis heute entstanden sind. Stets sind es Künstler, die Stappert porträtiert hat. Nach und nach ist so ein Archiv der internationalen Kunstszene entstanden.
 

Foto Andrea Stappert, Alex Katz, Cologne, 1999

Andrea Stappert
Alex Katz, Cologne, 1999

 
Stappert begann ihre Bilderreihe im Umkreis des 1997 verstorbenen Martin Kippenberger – nach ihrem Malerei-Studium an der Hamburger Kunstakademie. Auch sie ist – wie Bert Jäger – keine ausgebildete Fotografin. Und auch ihre Aufnahmen folgen kaum den klassischen Regeln der Porträtfotografie, was vor allem auch für ihre Kippenberger-Porträts gilt: Man bemerkt die Nähe der Fotografin zu ihren Protagonisten – und die Bilder fangen diese Nähe genauso ein, wie die Egozentrik, die Leidenschaft und die Angst vor dem Scheitern. Bis zum 12. Januar sind ihre Arbeiten bei Pixelgrain in Berlin zu sehen.

Gundula Schulze Eldowys im Lehmstedt-Verlag erschienenes Buch „Der große und der kleine Schritt“ dokumentiert das Leben in den letzten Jahren der DDR, im Speziellen das Leben im Dresden der Vorwendezeit. Seit Jahren ist das Werk der Fotografin bekannt: Kaum jemand hat die DDR eindringlicher geschildert – in ihrem Zerfall, ihrer Tristesse, aber auch in ihrer Vielfalt der Lebensformen.

Es sind trostlose Schwarzweiß- und Farbbilder, welche die 1954 in Erfurt geborene Fotografin findet, die seit 1972 in Berlin lebt: in Krankenhäusern, Kreißsälen, Altenheimen, auf dem Schlachthof, in Hinterhöfen, die es heute – nur 30 Jahre später – nicht mehr gibt. Stets steht der Mensch im Zentrum, dessen Leid sichtbar wird: Krankheit, Tod, Schmerz, Zwänge, Regeln. Dieses Buch formuliert ein desillusioniertes Menschenbild. Momente des Glücks sind selten, stattdessen beobachten wir stetigen Zerfall – der Städte und der Menschen.
 

Foto © Gundula Schulze Eldowy / Lehmstedt Verlag, 2012.
 
 
Foto © Gundula Schulze Eldowy / Lehmstedt Verlag, 2012.

© Gundula Schulze Eldowy / Lehmstedt Verlag, 2012.

 
Schulze Eldowy ist eine gnadenlose Fotografin, ihre Wahrheit ist bitter. Sie zeigt ein Land in seiner Auflösung, zeigt rissige Mauern, düstere Arbeitsstätten, zeigt es schonungslos und drastisch, macht Bilder gezeichneter Menschen, die kaum mehr aus dem Kopf verschwinden, weil der Tod in ihnen haust. Dieses tabulose, beklemmende Buch ist ein Beleg dafür, was Fotografie auch heute noch tun kann: eine allumfassende Kritik zu formulieren, an den Verhältnissen, an der Welt, in der wir leben. „Ein verletzter Mensch ist jenseits seines Kraftpotentials“, schreibt die heute in Berlin und Peru lebende Fotografin. „Er ist nicht das, was er ist. Er ist jemand Anderes, jemand Fremdes. Die Verletzung ist allerorten.“ „Du hast soviel Sympathie fürs Leben und Leiden“, hat Robert Frank einmal der Fotografin geschrieben. Zwei große Ausstellungen zeigen zur Zeit ihr Werk, eine davon im Bundestag, eine weitere bei C/O Berlin.

Springen wir nun noch einmal einige Jahre in der Zeit zurück – in die sechziger Jahre. Es war die Pop-Art, die jene Kämpfe bestritt, von denen nachgeborene Künstler bis heute profitieren: Seit Andy Warhol gibt es den Unterschied zwischen Hochkunst und Gebrauchskunst, zwischen high und low, zwischen Kleinem und Großem, zwischen Bedeutendem und Unbedeutendem nicht mehr. Alles kann zu Kunst werden – und Warhols Arbeiten haben sich in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben.

Ein jetzt erschienener Band von John Wilcock trägt den wundersamen Titel „Die Autobiografie und das Sexleben des Andy Warhol“. Er erinnert an Leben und Werk des 1987 verstorbenen Pop-Art-Künstlers, der aus „Campbell’s“-Suppendosen, aus Fotos von Hollywoodstars und Präsidenten neuartige, glamouröse Kunst machte, die den Terror des Konsums gleich mitdachte.
 

Titel Die Autobiografie und das Sexleben des Andy Warhol

 
Viele Weggefährten Warhols kommen in dem reich illustrierten Interview-Buch zu Wort. Sie sprechen über Kunst und über Sex. Sex, so hat Warhol einmal gesagt, sei so abstrakt – und bis zu seinem Tod wurde nur wenig aus seinem Liebesleben bekannt. In seiner Kunst war Warhol offener, die Darstellung von Sex und Erotik ist wichtiger Teil seines Werks, vor allem seiner Filme und Polaroid-Arbeiten. Doch nie ist Warhol Teil der Inszenierung – er bleibt auch hier, was er zeitlebens war: scheuer, bleicher Betrachter.

Um Heimat, das Aufgeben von Heimat, das Finden einer neuen Heimat – und den erneuten Aufbruch geht es in einem neuen Fotobuch von Nora Bibel, die an der Fachhochschule Bielefeld Fotografie studiert hat. Ihre Bilder illustrierten Jean Amerys Diktum „Man muss Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben“. Nora Bibel fotografiert das Leben zwischen Deutschland und Vietnam, verfolgt den Weg von vielen Vietnamesen, die in den vergangenen Dekaden nach Deutschland, in der Vorwendezeit vor allem als Vertragsarbeiter in die DDR gekommen sind – um später nach Vietnam zurückzukehren.
 

Foto

Nora Bibel
Nguyen Thi Mai Lan
Ha Tinh > Mühlhausen, Erfurt

 
 
Foto

Nora Bibel
Le Thi Hong Nhung
Hanoi > Wolfsburg

 
 
Foto

Nora Bibel
Dang Khai Quang
Ho-Chi-Minh-Stadt > Lübeck

 
Diese Vietnamesen mit deutscher Geschichte porträtiert die 1971 in München geborene Fotografin in Saigon oder Hanoi oder auch in der Provinz und verbindet ihre Fotografien mit kurzen Interviews, welche die persönliche Geschichte der Porträtierten erzählen. Es sind stille, konzentrierte, präzise Bilder, die in alltäglichen Momenten entstehen, dennoch dem Zeitfluss enthoben sind. Sie erzählen viel über die Gezeigten, aber auch über die Wohnkultur im heutigen Vietnam, wo das Familienleben viel mehr als in Deutschland im öffentlichen Raum stattfindet.

Wie etwa auch das vor kurzem erschienene Buch „Public Private Hanoi“ von André Lützen zeigt auch Nora Bibels Band „Heimat. Que Huong“ diese Durchlässigkeit zwischen privat und öffentlich: Das Leben spielt sich immer auf den Straßen und Gassen ab. Türen und Fenster stehen offen, geben den Blick in Wohnungen frei. Was bedeutet Heimat? Für jeden einzelnen? Fragt dieses Buch. Nguyet Van, einer der Porträtierten, gibt seine persönliche Antwort: „Ich kann vielleicht 20 Jahre in Deutschland bleiben, aber ich werde dort immer fremd sein. Ich bin doch hier in Vietnam geboren. Deswegen bin ich zurück gekommen.“

Am Ende von Foto-Frisch steht wie immer eine Empfehlung, Fotokunst käuflich zu erwerben. Man kann in Onlinegalerien fündig werden, bei Fotokunst-Galerien, auf Kunstmessen, in Auktionshäusern, bei Kunsthändlern – oder auch in den Ateliers der Künstler selbst. Wir möchten Ihnen in Zukunft Arbeiten vorstellen, die wir für sammlungswürdig halten – angeboten von seriösen Galerien, Verlagen oder Händlern.
 

Foto Tobias Zielony, Exklusive Edition für das MMK: Manitobe Ave.

Tobias Zielony, Exklusive Edition für das MMK: Manitobe Ave.
C-Print, 50×35,5 cm, 2011
Auflage 25 + AP; nummeriert und signiert

 
Diesmal empfehlen wir eine Edition des 1973 geborenen Fotokünstlers Tobias Zielony, der seinen neuen Zyklus „Manitoba“ aktuell im Frankfurter MMK Zollamt zeigt: „In Winnipeg, der Provinzhauptstadt des kanadischen Bundesstaates Manitoba, ist eine Reihe von Arbeiten entstanden, die das Leben von jugendlichen Gangmitgliedern der First Nations und ihren urbanen Lebensraum festhalten. In der Tradition der klassischen Bildreportage greift Zielony gleichwertig auf unterschiedliche Bildgenres zurück und zeigt Portraits der Jugendlichen, aber auch Gruppenaufnahmen, auf denen die Gangmitglieder posieren, sowie Bilder der Architektur und Landschaft in Winnipeg und einem Reservat. Neben den globalisierten Kleidungscodes und Gesten der Jugendlichen interessiert sich Zielony vor allem für die regionalspezifischen Geschichten der Indianer in ihrem sozioökonomischen Zusammenhang.“ Die Edition ist über das MMK zu beziehen, ist in einer Auflage von 25 Exemplaren erschienen und kostet 1000 Euro.

(Marc Peschke)