Foto Florence Henri, Frauenportrait, 1931Im Mittelpunkt der Ausstellung „Die andere Seite des Mondes“ stehen acht Künstlerinnen, die in den 1920er und 1930er Jahren maßgeblich an den ästhetischen Neuerungen in Europa beteiligt waren. Vom Dadaismus über den Konstruktivismus bis hin zum Surrealismus spannen sich die Arbeiten von Claude Cahun, Dora Maar, Sonia Delaunay, Florence Henri, Hannah Höch, Sophie Taeuber-Arp, Katarzyna Kobro und Germaine Dulac:

Information der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen:

Die andere Seite des Mondes. Künstlerinnen der Avantgarde

22. Oktober 2011 bis 15. Januar 2012
K20 GRABBEPLATZ

Kuratorin: Susanne Meyer-Büser

Einen neuen Blick auf die künstlerische Avantgarde in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen wirft die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen. Im Mittelpunkt der Ausstellung Die andere Seite des Mondes. Künstlerinnen der Avantgarde stehen acht Frauen, die vor dem Hintergrund der politischen und gesellschaftlichen Umbrüche in den 1920er und 1930er Jahren maßgeblich an den ästhetischen Neuerungen in Europa beteiligt waren. Hohes künstlerisches Niveau und ihr unbedingtes Engagement für die unterschiedlichsten ästhetischen Richtungen vom Dadaismus über den Konstruktivismus bis hin zum Surrealismus wurden zum Bindeglied zwischen Claude Cahun, Dora Maar, Sonia Delaunay, Florence Henri, Hannah Höch, Sophie Taeuber-Arp und den weniger bekannten Katarzyna Kobro und Germaine Dulac. Ebenso vielfältig wie die Kunststile sind ihre künstlerischen Mittel: Sie umfassen Malerei und Fotografie, Collage, Film und Skulptur, Marionetten und Modedesign.

Die andere Seite des Mondes in K20 Grabbeplatz erweitert mit mehr als 230 Ausstellungsstücken die Sicht auf diese bedeutende Epoche europäischer Kultur. Erstmals stellt die Ausstellung die acht wichtigsten Pionierinnen der Avantgarde in dieser Zusammenstellung vor und beleuchtet exemplarisch Werk und Leben der Künstlerinnen, die oft zeitweise eng miteinander befreundet waren oder sich indirekt über ihre Arbeiten kannten. Der Titel der Ausstellung verweist auf den verborgenen, noch wenig bekannten Aspekt des weiblichen Kunst-Netzwerks jener Zeit. Das Titelmotiv, Hannah Höchs „Siebenmeilenstiefel“ (um 1934), betont sowohl das häufig verwendete surreale Motiv des Flugs über eine Landschaft als auch die Überwindung von künstlerischen wie geografischen Grenzen durch die Avantgardistinnen.
 

Foto Claude Cahun, Selfportrait (reflected in mirror), ca. 1928

Claude Cahun, Selfportrait (reflected in mirror), ca. 1928
Fotografie, 18 x 24 cm
Jersey Heritage Collections, © Jersey Heritage Trust

 
Das Gespür für die Tendenzen der Zeit und für die richtigen Kontakte, zudem die Gabe, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein, spielte für die damaligen Künstlerinnen eine alles entscheidende Rolle. Ihr künstlerisches Netzwerk spannten die acht Avantgardistinnen quer durch Europa – von Zürich bis Berlin, von Warschau bis Amsterdam und Paris. Der grundlegende gesellschaftliche Wandel, das zeitgemäße Bild der „Neuen Frau“, hat sicherlich das Selbstverständnis der hier vorgestellten Künstlerinnen beeinflusst – ziehen sich doch Unabhängigkeit, Offenheit und Mobilität wie ein roter Faden durch alle acht Biografien. Dass die Künstlerinnen sich gegenseitig beeinflussten und inspirierten, wird in den ausgestellten Werken auf vielfältige Weise offensichtlich: Zu den immer wiederkehrende Themen zählen das Theater, Puppen und Selbstporträts oder ästhetische Problemstellungen wie der „konstruierte Raum“, Farbakkorde und „Farbe im Raum“. Auch Motive wie Spiegel, Muscheln, Hände und Masken kehren immer wieder. Die Ausstellung gibt somit Aufschluss über die Ähnlichkeiten und Beziehungen zwischen den Werken dieser acht außergewöhnlichen Künstlerinnen und stellt spannende und oft überraschende Verknüpfungen her.

Die Zwischenkriegszeit steht für einen immens kreativen Abschnitt in der Kunst- und Kulturgeschichte: In Deutschland und in der Schweiz brach ab 1916 der Dadaismus als neue Kunstform mit bürgerlichen Konventionen. Die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges ließen die Künstler an den Idealen der Vorkriegszeit zweifeln und bewirkten das Entstehen einer neuen, äußerst radikalen Kunstform. Auch die Künstler Osteuropas arbeiteten an einer neuen ästhetischen Sprache: Bereits 1914 hatten die russischen Konstruktivisten mit Malewitsch und seinem legendären Schwarzen Quadrat auf weißem Grund ein neues Bild der Wirklichkeit eingefordert – darauf bauten die Gruppe De Stijl, das Bauhaus und die konkrete Kunst auf. Der Surrealismus als dritte international agierende Kunstrichtung machte das Unbewusste, Traumhafte zu seinem zentralen Gegenstand und öffnete damit den Blick auf eine andere Wirklichkeit. In den ersten Jahren seit ihrer Gründung Anfang der 1920er Jahre dominierte die Surrealistengruppe um André Breton die Pariser Kunstszene. Künstlerinnen waren in diesen Kreisen kaum akzeptiert und fanden erst in den 1930er Jahren allmählich Anerkennung.

Paris blieb in dieser Zeit jedoch das Epizentrum der unterschiedlichsten Avantgarderichtungen: Es war für Künstlerinnen und Künstler selbstverständlich, dort eine Zeitlang zu leben, zu arbeiten und vor allem Kontakte mit Gleichgesinnten zu knüpfen. In Paris fanden 1925 die in ihrer Wirkung weitreichenden Ausstellungen L‘Art d‘Aujourd‘hui und Exposition Internationale des Arts Décoratifs et Industriels Modernes statt, mit denen die konkrete Kunst bekannt gemacht wurde. Die abstrakten und surrealistischen Gruppen in Paris bauten Kontakte nach Osteuropa auf und verbanden künstlerische Tendenzen in Westeuropa mit denen Osteuropas. Sophie Taeuber-Arp und Florence Henri spielten als talentierte „Netzwerkerinnen“ in diesem Austauschprozess ihre besonders einflussreichen Rollen.

Die Künstlerinnen

 

Sophie Taeuber-Arp, Bar Aubette (Rekonstruktion), 1926-28/1998

Sophie Taeuber-Arp, Bar Aubette (Rekonstruktion), 1926-28/1998
Teil des Gesamtkomplexes Aubette in Strassburg, Entstehungszeit: 1926/28, Holz, MDF-Platten, Farbe
Sammlung Haus Konstruktiv, Schenkung des Vereins „Swiss, made“, der Schweizerischen Stiftung Pro Helvetia und des Bundesamtes für Kultur, Foto: A. Burger

 
Sophie Taeuber-Arp (1889–1943) begann ihre künstlerische Laufbahn im Kreis der Zürcher Dadaisten um Hugo Ball und Hans Arp. Mit ihrem umfassenden Werk hat sie den Dadaismus und die geometrisch-abstrakte Kunst miteinander verknüpft und sogar Randbereiche des Surrealismus berührt. Neben Piet Mondrian und Theo van Doesburg trug sie zur Etablierung der konkreten Kunst in Europa bei und war als weltoffene Persönlichkeit eine frühe „Networkerin“ in Sachen avantgardistischer Kunst.

Auch Hannah Höch (1889–1978), die zusammen mit Raoul Hausmann den Dadaismus in Berlin mitbegründet hatte, verschaffte sich als einzige Frau im Kreis der Dadaisten Baader, Huelsenbeck, Grosz und Heartfield durch ihre zeitkritischen Collagen Anerkennung. Die von ihr praktizierte Collagetechnik wurde später zum Markenzeichen des Dadaismus.
 

Sonia Delaunay, Chanteur Flamenco (dit Petit Flamenco), Flamencosänger (genannt Kleiner Flamenco), 1916

Sonia Delaunay, Chanteur Flamenco (dit Petit Flamenco), Flamencosänger (genannt Kleiner Flamenco), 1916
Gouache, Öl und Enkaustik auf Papier, 36,1 x 46,1 cm
CAM – Calouste Gulbenkian Foundation Collection, Lissabon, © L&M Services B.V. The Hague 20110604

 
Geradezu beispielhaft für die Pionierinnen der Avantgarde steht Sonia Delaunay (1885– 1979). Zusammen mit Robert Delaunay bereitete sie in Paris den Weg zur simultanen Malerei. Später wandte sie ihre Farbexperimente im Bereich des Modedesigns an, revolutionierte die Modeindustrie mit ihrem Label „Sonia“ und kreierte für das Amsterdamer Luxuskaufhaus Metz von 1925 bis in die 1960er Jahre exklusive Kleiderstoffe.
 

Foto Florence Henri, Frauenportrait, 1931

Florence Henri, Frauenportrait, 1931
Vintage Print, 27,7 x 23,9 cm
Galerie Berinson, Berlin, © Galleria Martini & Ronchetti, Genova

 
Die mit Sophie Taeuber-Arp und mit Sonia Delaunay befreundete Florence Henri (1893– 1982) galt als die Repräsentantin des Neuen Sehens in Frankreich. Ob bei den Futuristen in Rom, den Kubisten in Paris oder am Bauhaus in Dessau – die reisefreudige, vielsprachige Florence Henri hielt sich immer dort auf, wo die Avantgarde zu Hause war. In ihre perspektivisch vielschichtigen Spiegelbilder fügte sie psychologische Ebenen ein, die aus dem Surrealismus bekannt sind.
 

Katarzyna Kobro, Hängende Konstruktion (1), 1921, Rekonstruktion 1972

Katarzyna Kobro, Hängende Konstruktion (1), 1921, Rekonstruktion 1972
Epoxyd-Harz, Fiberglas, Metall, Holz, 20 x 40 x 40 cm
Muzeum Sztuki w Lodzi, Lódz, © Kobro
Foto: © Kobro; © Kunstsammlung NRW

 
Die in Lódz lebende Bildhauerin Katarzyna Kobro (1898–1951) war russischer Abstammung und trug mit ihren Ideen entscheidend zur Weiterentwicklung der konstruktivistischen Skulptur bei. Kobro, die bis vor Kurzem weitgehend unbekannt war, vertrat die Auffassung vom Raum als universeller Erscheinung, befreite die Skulptur von ihrer objekthaften Körperlichkeit und war während der 1920er Jahre in der internationalen Szene der konstruktivistischen Avantgarde aktiv. Aufgrund ihrer unglücklichen Lebensumstände und durch Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg sind viele ihrer einzigartigen Skulpturen verloren gegangen, die nun im Westen „wiederentdeckt“ werden können.

Die Fotografin Dora Maar (1907–1997) bewegte sich in den 1930er Jahren in den surrealistischen Kreisen um André Breton, Man Ray und Brassaï. Parallel zur Modefotografie machte sich Dora Maar, später langjährige Partnerin Picassos, zuerst durch ihre sozialkritischen Fotografien von Straßenkindern und Obdachlosen und ab 1936 durch ihre surrealen Bilderwelten einen Namen.

Zu den herausragenden surrealistischen Künstlerinnen, die bereits in den 1920er Jahren aktiv waren, gehört die Filmregisseurin Germaine Dulac (1882–1842). Sie produzierte 1928 mit La coquille et le clergyman den ersten surrealistischen Film – ein Jahr vor Luis Buñuels legendärem Andalusischen Hund. Dulacs 40-minütiger Film ist in der Ausstellung und im Begleitprogramm zu sehen.
 

Foto Claude Cahun, Autoportrait, 1927

Claude Cahun, Autoportrait, 1927
Fotografie, Silbergelatineabzug, 10,4 x 7,6 cm
Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, © Jersey Heritage Trust

 
In die Riege der frühen Surrealistinnen gehört auch Claude Cahun (1894–1954), die sich als Schriftstellerin und Philosophin im Kreis um André Breton Respekt verschaffte. Sie maß ihren eigentlich „nebenbei“ entstandenen Fotografien zunächst wenig Bedeutung bei. Dabei zählen heute ihre Selbstporträts zu den wichtigsten und radikalsten Äußerungen weiblicher Identität in den 1930er Jahren. Cahun inszenierte sich in diesen Fotografien jenseits der bekannten Geschlechterrollen als androgynes oder transsexuelles Wesen einer surrealen Welt.

In der Ausstellung präsentiert darüber hinaus eine „Klanginsel“ Musik von sechs internationalen Komponistinnen aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Ein von Ralph Goertz produzierter Dokumentarfilm vertieft die Thematik der Ausstellung Die andere Seite des Mondes.
 
 
Katalog:

Titelseite: Die andere Seite des Mondes

Die andere Seite des Mondes. Künstlerinnen der Avantgarde (bei amazon.de)
Mit Texten von Ralf Burmeister, Karoline Hille, Walburga Krupp, Paulina Kurc-Maj, Susanne Meyer-Büser, Biografien: Louise Bugge Jacobsen, Matteo de Leeuw-de Monti
288 Seiten, ca. 351 z.T. farbige Abbildungen, Format: 27 x 31 cm, broschiert
Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, 2011
DuMont-Verlag, Köln
ISBN-13: 978-3832193911
39,95 Euro.

Ausstellung:
Die andere Seite des Mondes
Künstlerinnen der Avantgarde
22. Oktober 2011 bis 15. Januar 2012
(anschließend Louisiana Museum of Modern Art, Humlebæk, Dänemark, 10. Februar bis 28. Mai 2012)

Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen
K20 Grabbeplatz
Grabbeplatz 5
40213 Düsseldorf

Öffnungszeiten: Di bis Fr 10 – 18 Uhr; Sa/So/Fe 11 – 18 Uhr; Montag geschlossen
 

(thoMas)