James Turrell: Afrum pale blue, 1969… ist eine Ausstellung über die Grenzen abendländischer Rationalität; auszuloten sind sie in den Hamburger Deichtorhallen:

 
 
 
 
 

Foto Paul Nougé: La naissance de

Paul Nougé: La naissance de l’objet; aus der Serie „Subversion des images“, 1929-1930
© Archives et Musée des la littérature, Brüssel

 
Die Deichtorhallen Hamburg informieren:

Wunder

Das Thema
WUNDER ist eine Ausstellung über die Grenzen abendländischer Rationalität – ihren Rändern, ihrem Anderen und in ihrem Innern. In seiner einfachsten Definition steht das Wunder für eine Öffnung in der Welt, ein Einfallstor für Utopisches, Göttliches, Innovatives: Etwas, was den Lauf der Dinge nachhaltig zu beeinflussen vermag. Werke der Gegenwartskunst umkreisend, spürt die Ausstellung in einer einzigartigen Komposition von Kunstwerken, wissenschaftlichen und kulturgeschichtlichen Objekten diesem Wunderverständnis bis heute nach. Dabei spielt der abendländische Umgang mit dem, was fremd oder verstörend erscheint, eine wichtige Rolle. Die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, das Wunder in anderen Kulturen und Religionen zu begreifen, stellt die Besonderheit des geläufigen Wunderbegriffs in seiner Verschmelzung künstlerischer, technischer und religiöser Elemente heraus. WUNDER ist nicht zuletzt auch eine Ausstellung über Ausstellungen, die sich mit den Erwartungen der Besucherinnen und Besucher eines Museums für Gegenwartskunst auseinandersetzt und neue Perspektiven für die Präsentation von Kunst und anderen Artefakten eröffnen möchte. Deshalb wird die Position des Kindes in der Ausstellung besonders gewürdigt und eng mit der Konzeption verwoben.

 

Joseph Ignaz Mildorfer: Die Herabkunft des Heiligen Geistes, um 1750

Joseph Ignaz Mildorfer: Die Herabkunft des Heiligen Geistes, um 1750
Ungarische Nationalgalerie, Budapest
 
 
James Turrell: Afrum pale blue, 1969

James Turrell: Afrum pale blue, 1969
© Foto: Florian Holzherr

 
Konzeptioneller Hintergrund
Nach antiker griechischer Vorstellung ist ein Wunder ein Ereignis, mit dem man nicht gerechnet hat und das man (noch) nicht erklären kann – nicht mehr und nicht weniger. Die heutige Vorstellung vom Wunder als religiöses Geschehen bzw. als durchweg positives Ereignis ist jüngeren Datums und Resultat einer religiösen und wissenschaftlichen Prägung im Abendland. In christlicher Lehre ist die Frage nach dem rechten Glauben und gottgefälliger Lebensführung von Anfang an Gegenstand von Zweifeln. Dem Wunder kommt hier die Funktion eines Beweises zu, der dem Gläubigen Halt gibt und Unsicherheit nimmt. Während in anderen Religionen für das Wunder weder Raum noch systematische Notwendigkeit besteht (die gesamte Schöpfung ist das Wunder), ist sein Erscheinen im Christentum wichtig für den Erhalt und die Kontinuität des Glaubens.

Dieser Wunsch nach einem Beweis hat auch damit zu tun, dass das abendländische Denken ebenso vom christlichen wie vom griechischen Erbe geprägt ist, in dem Ansätze für ein wissenschaftliches Weltbild angelegt sind. Die Vorstellung, durch Experiment, Beweis und rationale Erkenntnis die Gesetze dieser Welt zu entschlüsseln und damit die Lebensbedingungen zu verbessern, war und ist ein großer Antrieb für wissenschaftliches Streben. Sie setzt auf die Fähigkeit des Einzelnen oder des Kollektivs, über das Bestehende hinauszugehen und Neues zu schaffen. Gleichzeitig eignet jeder großen Innovation etwas Unerklärliches an, das oft mit dem Wort Wunder umschrieben wird. Auch hier blitzt eine Öffnung in der lückenlosen Rationalität auf, der sich Fortschritt verdankt. Beweis und Wunder haben somit eine lange gemeinsame Geschichte. Ihre Trennung ist die Geburtsstunde von Kunst, Wissenschaft und Technik in dem uns heute geläufigen Sinne.
 

Fiona Tan: Disorient, HD video installation, 2009

Fiona Tan: Disorient, HD video installation, 2009
Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin und Frith Street Gallery, London

 
In anderen Kulturen und Religionen hat das Wunder einen anderen Stellenwert. Weder im Judentum noch im Islam spielt es eine besondere Rolle bzw. wird zum Teil sogar ausdrücklich seine Interpretation als Zeichen Gottes oder Öffnung der Welt auf eine offene Zukunft hin abgelehnt. Für polytheistisch und animistisch geprägte Kulturen dagegen ist das Wunder gewissermaßen ubiquitär. Auch hier kommt dem einzelnen Wunder nicht die Kraft eines die Menschen verbindenden transzendenten Ereignisses zu; vielmehr ist es selbstverständlicher Teil der Realität, in der sich das, was Naturgesetz zu sein scheint, jederzeit ändern kann. Es wird ein Weltbezug sichtbar, der sich in der abendländischen Kultur am ehesten noch im Magischen und Zaubern finden lässt. Gerade in diesem Vergleich werden seine Grenzen deutlich: In dem, wie man das Wunder fasst, scheinen die Differenzen im Verständnis von Individuum und Kollektiv, Freiheit und Zukunft auf. Das gilt auch innerhalb des Abendlandes: Solange man das Wunder nur mit kritisch-rationalem Blick betrachtet, wird man es früher oder später aus den Augen verlieren. Nur wenn man als wesentlich anerkennt, dass die logische Rationalität wissenschaftlichen Denkens immer dann an ihre Grenzen gerät, wenn es um gesellschaftliche und politische Fragen geht, nur dann besteht Aussicht, das Wunder in seiner Bedeutung für die abendländische Kultur anzuerkennen.
 

Kader Attia: Ghost, installation – castings of women's bodies

Kader Attia: Ghost, installation – castings of women’s bodies, aluminum foil, Installation view
Halle 14 – Leipzig / Germany – 2008
Mit freundlicher Genehmigung der Sammlung Centre Georges Pompidou, Frankreich, und privater Sammlungen
Foto: Kader Attia

 
Gliederung der Ausstellung
Die Ausstellung versteht sich als Entdeckungsreise, in der die ästhetische Erfahrung der Exponate genauso zentral ist wie die inhaltliche Auseinandersetzung mit ihnen. Ein Ziel der Ausstellung ist es, die Besucher für andere Möglichkeiten der eigenen Wahrnehmung zu sensibilisieren. Der Besucher darf und soll sich deshalb zunächst von seinen eigenen Sehweisen und Vorlieben leiten lassen, um von dort aus in die Wunder einzudringen. Die eigens von dem Architekten Roger Bundschuh entwickelte Ausstellungsgestaltung setzt dabei orientierende Akzente: Neben räumlich hervorgehobenen Hauptarbeiten bildet die Gestaltung einzelne Cluster aus, in denen Binnenthemen behandelt werden. Der Besucher kann einsteigen, wo er möchte, und sich mit einzelnen Exponaten und Kompositionen auseinandersetzen, oder er kann sich durch gezielte Blickachsen auf übergreifende Zusammenhänge hinweisen lassen und so in andere Kontexte gelangen. Die einzelnen Bereiche sind verbunden über einen zentralen Sitzbereich, der sich über die Länge der Halle erstreckt und stets die Möglichkeit zum Pausieren und Betrachten bietet.

 

Foto Olga Chernysheva: aus der Serie „Waiting for the Miracle“, 2000

Olga Chernysheva: aus der Serie „Waiting for the Miracle“, 2000
Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin und Galerie Volker Diehl, Berlin

 
Gerade weil sie diesen freien Weg erlaubt, ist die Ausstellung präzise aufgebaut. Sie gliedert sich in vier Hauptbereiche: Die eine Achse in Längsrichtung der Halle widmet sich links vom zentralen Sitzbereich vorrangig dem, was das Wunder in Geschichte und Gegenwart der christlich und wissenschaftlich geprägten abendländischen Kultur bedeutet. Die rechte Achse behandelt punktuell unsere Bilder von Wunder und Wunderbarem in anderen Kulturen und Religionen. Beide Achsen weisen zahlreiche Parallelen und Anschlüsse auf, die durch Blickschneisen und korrespondierende Motive sichtbar werden. Entsprechend sind sie analog gegliedert. Während die ersten beiden Hauptbereiche sich vornehmlich mit naturwissenschaftlicher und magischer Sichtweise auf Geist, Materie und dinglicher Vielfalt auseinandersetzt, treten im weiteren Verlauf der Ausstellung immer stärker gesellschaftlich-politische Fragen in der Vordergrund. Das Wunder wird hier nicht als Moment der Innovation, der erstaunlichen Erkenntnis oder verborgenen Kraft gefasst, sondern als metarationales Element, das seine Bedeutung nur in Hinblick auf ein Kollektiv, die Bündelung seiner Kräfte und die Ausrichtung auf ein Ziel hin entfaltet.
 

Javier Téllez: One flew over the Void

Javier Téllez: One flew over the Void (Bala perdida), 2005
Single channel video projection, 11.30 min., color, sound, 4:3, NTSC
Commissioned for inSite_05 in San Diego, California, and Tijuana, Mexico, 2005
Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers und der Galerie Peter Kilchmann, Zürich

 
Die Hauptarbeiten und Hauptmotive
Die vier Themenbereiche gehen kontinuierlich ineinander über. Der Bereich 1 beschäftigt sich ausgehend von der erstmals gezeigten Arbeit James Turrells „Squat Blue“ mit dem Phänomen der Innovation vor der Folie der abendländischen Grundopposition von Geist und Materie. Er fragt, welchen Anteil Intention und Zufall, Eigengesetzlichkeit des Materiellen und menschliche Kreativität im Entstehungsprozess des Neuen haben und macht die Erkundung unbekannter Welten im Horizont eines physikalischen Weltverständnisses zum Thema. Der Bereich kulminiert in der Bestimmung der Frage nach der Rolle des Beweises und der (Un-)Beweisbarkeit des Wunders. Zugleich geht er den Versuchen der Sichtbarmachung nicht nur physikalischer, sondern auch innerer Welten nach, dem Bild- und Phantasiearsenal, in das der abendländische Mensch hinein geboren wird und das seinem Verständnis des Wunderbaren und des Irrationalen Gestalt gibt.

 

Silberpfeil (Argyropelecus affinis), Tiefseefisch

Silberpfeil (Argyropelecus affinis), Tiefseefisch
© IFM-GEOMAR / Solvin Zankl

 
Die Dinge in der Ausstellung
Die ca. 60 Objekte aus der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte spielen eine besondere Rolle für die Argumentation und Gliederung der Ausstellung. Zunächst sind sie Exponate, die ganz real und unmetaphorisch – wie etwa die V2-Rakete („Wunderwaffe“) – auf einen Aspekt des Begriffs „Wunders“ in seiner Geschichte verweisen. Zugleich dienen sie dazu, durch ihre ausführliche Betextung in die verschiedenen Perspektiven und Fragestellungen der Ausstellung einzuführen, die auch die Kunstwerke direkt oder indirekt zum Thema haben. Schließlich stellen sie sich als Objekte im Kunstmuseum selbst zur Diskussion in der Frage, nach welchen Codes der Besucher die eine von der anderen Objektwelt unterscheidet. Gerade für Besucher mit Berührungsängsten gegenüber Werken der Gegenwartskunst können die Objekte eine Hilfestellung sein, sich mit den dort verarbeiteten Fragestellungen vertraut zu machen, indem sie Hintergrundinformationen erlangen, die für einen Zugang zu den Kunstwerken hilfreich sind. Das gleiche gilt in anderer Weise auch für den versierten Besucher eines Kunstmuseums, der hier mit kultur- und wissenschaftshistorischen Inhalten in Berührung kommt, die einen anderen Umgang nahelegen als den mit Kunstwerken.

 

Nkisi nkondi. Anfang 20. Jh.

Nkisi nkondi (heiliger Medizinfetisch); Anfang 20. Jh., Rautenstrauch-Joest-Museum – Kulturen der Welt, Köln
© Foto: Rheinisches Bild-Archiv, Helmut Buchen

 
Auswahl einiger Objekte: Das Hamburger Patent der Wunderkerze, die Spitze einer V2-Rakete („Wunderwaffe“), eine Nebelkammer, Gipsabdrücke von Geisterhänden, der Zauberkasten als Geschenk Goethes an seine Enkel, Sal Mirabilis, das erste Plastik, der Verband einer Stigmatisierten, neuzeitliche Flugblätter zu Wunderereignissen, antike Münzen, ein Perpetuum Mobile, ein Prachtkoran, Helmut Rahns Schuh, mit dem das „Wunder von Bern“ Wirklichkeit wurde.

Die Kinderspur
Angesichts des Wunders sind alle Experten – wenn auch auf unterschiedliche Weise. Nicht nur in unserer Kultur wird dem Kind eine besondere Offenheit der Wahrnehmung zugeschrieben, die bereits als solche wunderbar sei. Gleichzeitig ist auch das Gegenteil wahr: Ein freier Blick ohne die Hilfe von Bildung und Erfahrung ist schnell dazu verurteilt, Dinge nicht zu verstehen oder fälschlich für ein Wunder zu halten, was nur ein einfacher Trick ist. Die Ausstellung setzt sich deshalb auf verschiedenen Ebenen mit der Figur des Kindes auseinander. Neben zahlreichen Kunstwerken, die sich an der Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsensein beschäftigen, gibt es drei räumliche Bereiche, die zwar integraler Bestandteil der Ausstellung sind, doch exklusiv nur den Kindern zugänglich. Jeder Bereich thematisiert eine andere Facette des Wunders, der an dieser Stelle auch in der Erwachsenenausstellung behandelt wird. Hinzu kommt ein weiteres Element: An ausgewählten Orten der Ausstellung können sich die Kinder mithilfe von Kopfhörern und Fernsehern darüber informieren, wie andere Kinder – z.T. mit Hilfe von zusätzlichen Hintergrundinformationen – ein bestimmtes Exponat wahrnehmen. Dieser Wissensvorsprung der Kinder verleiht ihnen eine ungewohnte Autorität und macht zugleich die Abhängigkeit vieler Exponate einerseits von einem bestimmten Wissenshorizont, andererseits von der Fähigkeit zu einer offenen, naiven Wahrnehmung deutlich. Insofern kann man sagen, dass die Kinderspur ebenso sehr für die Erwachsenen ist wie die Erwachsenenausstellung für Kinder. So widmet sich ein eigener Strang auch ausdrücklich diesem Motiv der Kindheit und seiner vermeintlichen größeren Fähigkeit, sich auf die Wunder des Alltags einlassen zu können. Die Ausstellung fragt danach, wo und wann sich diese Offenheit verliert und in die Adoleszenz mündet.

 

Foto Julia Kissina: Spiel aus dem Werkzyklus „Ich sehe was, was du nicht siehst“, 2008

Julia Kissina: Spiel aus dem Werkzyklus „Ich sehe was, was du nicht siehst“, 2008
Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin

 
Zur Ausstellung erscheint ein umfangreicher Katalog mit ca. 150 Abbildungen und Essays namhafter Autoren wie Zygmunt Bauman, Robert Pfaller, Peter Geimer im Snoeck Verlag, Köln.

Künstlerinnenliste: Francis Alÿs, Kader Attia, César Baldaccini, Joseph Beuys, Dara Birnbaum, Cosima von Bonin, Olga Chernysheva, Nathan Coley, Ceal Floyer, Hans Graf, Andreas Gursky, Susan Hefuna, Susan Hiller, Jonathan Horowitz, Sven Johne, Helmut & Johanna Kandl, Martin Kippenberger und Albert Oehlen, Julia Kissina, Terence Koh, Igor & Svetlana Kopystiansky, Philipp Lachenmann, Mark Leckey, Armin Linke, Ingeborg Lüscher, Kris Martin, Hiroyuki Masuyama, Henri Michaux & Eric Duvivier, Joseph Ignaz Mildorfer, Julia Montilla, Timo Nasseri, Paul Nougé, Reto Pulfer, Julien Prévieux, Walid Raad / The Atlas Group, Johann von Schraudolph, Thomas Schütte, Shirana Shahbazi, Katharina Sieverding, Roman Signer, Thomas Struth, Alina Szapocznikow, Larry Sultan und Mike Mandel, Fiona Tan, Javier Téllez, Jalal Toufic, James Turrell, Timm Ulrichs, Susan McWilliam, Erwin Wurm
 
 
Ausstellung:
Wunder
23. September 2011 – 5. Februar 2012

Deichtorhallen Hamburg
Deichtorstr. 1-2
20095 Hamburg

Siehe auch die Seite zur Ausstellung: Wunder

Katalog:
Zur Ausstellung erscheint ein umfangreicher Katalog mit ca. 150 Abbildungen und Essays namhafter Autoren wie Zygmunt Bauman, Robert Pfaller, Peter Geimer im Snoeck Verlag, Köln, für 29,80 Euro.
 

Foto einer Altar-Reliquiar mit zwei Reliquienbündeln und Weiheurkunde, 1682

Altar-Reliquiar mit zwei Reliquienbündeln und Weiheurkunde, 1682, Museum Heimathaus Münsterland und Krippenmuseum, Telgte
© Foto: Thomas Ostendorf

 
(thoMas)