Die Sehnsucht der Fotografie – Fotografie und Sehnsucht, das ist unser Foto-Frisch-Thema in diesem Monat. „Sehnsucht“ ist ein abstrakter Begriff, doch einer, der viel mit der Fotografie, mit dem Akt des Fotografierens zu tun hat:

Sehnsucht, das ist für viele der Wunsch, den Ort zu verändern – auf Reisen zu gehen. So ist es auch für den 1952 in San Francisco geborenen Fotografen Alex Webb, der die karibische Inselwelt zu seinem Ort der Sehnsucht gemacht hat. Seit vielen Jahren fotografiert er in der Karibik, 1986 erschien sein Buch „Hot Light/Half-Made Worlds“, in dem er die Welt der Tropen in intensive Farbfotografien goss. Webbs Bilder sind reine Atmosphäre, wie auch sein neuer Band zeigt.
 

Alex Webb - Karibik - Cover

 
Der Magnum-Fotograf offenbart das Leben in den Tropen als überwältigende Bilderwelt, als prachtvolles „Ja“ zum Leben. Zwischen den Buchdeckeln finden wir Menschen der verschiedensten karibischen Kulturen der Kleinen und Großen Antillen, Bilder eines Lebens, das stark vom Meer geprägt ist, Fotografien, die sich ganz den Stimmungen hingeben, die der Fotograf auf den Inseln fand. Dem in Leinen gebundenen Buch ist eine Musik-CD mit Klängen der Antillen beigegeben.

Sehnsucht, das kann auch der Wunsch sein, die Vergangenheit festzuhalten, zu dokumentieren. Einen solchen Versuch unternimmt Stefan Boness in seinem Band „Southern Street“. Ein schmales Buch, nur 48 Seiten umfasst es, doch sein Inhalt ist monumental: Denn dem 1963 in Bad Schwartau geborenen Fotografen gelingt es am Beispiel der „Southern Street“ in Manchester, die historische Dimension des Ortes zu vermitteln. Das dokumentarische Langzeitprojekten zeigt die verbliebenen viktorianischen Bauten ebenjener Straße, die mittlerweile schon Geschichte ist. Die Arbeiterhäuser wurden abgerissen – Teil eines gigantischen Umbaus der Stadt Manchester.
 

Foto aus Stefan Boness. „Southern Street“

 
Boness’ Sehnsucht gilt stets solchen Spuren, wie er schon in seinem Buch „Flanders Fields“ zeigte, in dem er in der flandrischen Landschaft nach Zeichen des 1. Weltkriegs suchte. Und auch in Manchester, der Geburtsstadt der industriellen Revolution, wurde er fündig. Sein Langzeitprojekt nennt sich „The Re-Making of Manchester”, im Zentrum seiner fotografischen Arbeit stehen verlassene viktorianische Terrassenhäuser der englischen working class. Heute sind sie eine etwas traurig machende Metapher für die Veränderungen unserer Zeit. Denn so vieles, ganze Lebenskulturen, sind verschwunden oder sind im Verschwinden begriffen. Die „Southern Street“ gibt es heute nicht mehr, sie wurde dem Erdboden gleichgemacht. Auch beim Betrachten dieser Bilder kommt Sehnsucht auf. Sehnsucht nach Erhalt kultureller Diversität.
 

Titelseite Istanbulum

 
Eine wunderbare Dokumentation des Fremden liefert Andrea Künzig in ihrem neuen Band „Istanbulum“. Die deutsche Fotografin lebt und arbeitet in Istanbul – und auch diesem Buch ist Sehnsucht eingeschrieben: Sehnsucht nach Fremdartigkeit, nach dem „Anderen“ jenseits der Touristenpfade. Künzigs Buch ist eine sehr persönliche Bilderfolge des Istanbuler Alltags und weckt Sehnsucht, die Stadt selbst in Augenschein zu nehmen.
 

Foto William Eggleston

 
„Before Color“ ist ein im Steidl-Verlag erschienenes Buch, das frühe Schwarzweißfotografien von William Eggleston vorstellt. Bilder, die seit Mitte der sechziger Jahre bis in die frühen Siebziger entstanden sind – vor den bedeutenden Farbbildern des amerikanischen Fotografen. Vieles, was später die Fotografie Egglestons bestimmt, finden wir hier schon angelegt: vor allem die Erhöhung des Alltäglichen, des Schlichten und Unspektakulären zum Bildthema. Eggleston war der erste, der bewies, das auch ein beiläufiger Schnappschuss Kunst sein kann – und er war auch einer der ersten, der zeigte, dass Einsamkeit und Verlorenheit zum Sujet taugen. Denn das sind seine Protagonisten meist: Verlorene, Außenseiter, welche die Sehnsucht nach einem anderen Leben vorantreibt.
 

Titelseite Ahead with the past

 
Ein nicht ganz unähnliches Menschenbild hat auch Jutta Benzenberg, die ihr neues Buch „Ahead with the past“ genannt hat. Ihr Thema ist Albanien – ein Land zwischen Resignation und Aufbruch, zwischen Skepsis und Sehnsucht. Das Buch ist die Fortsetzung eines vor 20 Jahren mit dem albanischen Autor Ardian Klosi begonnenen Projekts. Neun Serien werden hier vorgestellt – ein sehr berührendes Portrait des Landes.
 

Foto Hans Christian Schink

 
Hans Christian Schinks neues Buch „1 h“ stellt so genannte „echten Solarisationen“ vor: extreme Überbelichtungen eines Negativfilms, bei sich der fotochemische Prozess umkehrt und die im Negativ dunkelsten Punkte wieder heller werden. Eine Stunde sind die Fotografien dieses Bandes belichtet – die Sonne erscheint durch die Erdbewegung als schwarzer Strich. Eine Serie, die mit sehr klassischen Mitteln gestaltet ist und dennoch ungesehen wirkt. Und, um bei unserem Thema zu bleiben, auch Sehnsucht weckt: Sehnsucht nach mehr von solchen ungesehenen Bildern. Schinks Serie ist bis zum 11. Januar im Oberösterreichischen Landesmuseum in Linz zu sehen (www.landesgalerie.at).

Am Ende von Foto-Frisch soll ab nun monatlich eine Empfehlung stehen, Fotokunst käuflich zu erwerben. Man kann in Onlinegalerien fündig werden, bei Fotokunst-Galerien, auf Kunstmessen, in Auktionshäusern, bei Kunsthändlern – oder auch in den Ateliers der Künstler selbst. Wir möchten Ihnen in Zukunft Arbeiten vorstellen, die wir für sammlungswürdig halten – angeboten von seriösen Galerien oder Händlern.
 

Foto Hans Christian Schink

Hans Christian Schink: 2/21/2010, 6:43–7:43 pm, S 38° 49.086’ E 174° 34.936’

 
In diesem Monat ist es die bei Hatje Cantz erschienene „Collectors-Edition“ mit einer Arbeit von Hans Christian Schink mit dem Titel „2/21/2010, 6:43–7:43 pm, S 38° 49.086’ E 174° 34.936’“ aus dem Jahr 2010. Ein Handabzug vom Negativ auf Barytpapier inklusive des Buchs, Blattformat 40×50 cm, Bildformat 38×48 cm, Auflage 20 plus 5 Künstlerabzüge, signiert und nummeriert. Wir empfehlen dieses Werk nicht nur wegen der Schönheit der Strand-Impression aus der Umgebung von Auckland, sondern auch wegen der vielversprechenden künstlerischen Entwicklung des 1961 in Erfurt geborenen Künstlers. Hans Christian Schinks Werk wird auf bedeutenden Kunstmessen gezeigt, die rührige Galerie Rothamel (www.rothamel.de) vertritt den Künstler sehr erfolgreich – wie große Museumsausstellungen in den vergangenen Jahren beweisen. Schink studierte 1986 bis 1991 an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig und war dort bis 1993 Meisterschüler. Er wurde mit zahlreichen Stipendien und Preisen ausgezeichnet und lebt in Leipzig und Berlin.

(Marc Peschke)