Foto Wolfram HahnWolfram Hahn widmet sich in seiner Arbeit Kaffee Bankrott einer Reihe von Menschen, die sowohl im materiellen Überlebenskampf unseres Gesellschaftssystems als auch bei der graduellen Anpassung an gesellschaftliche Normen den erhofften Platz nicht behaupten konnten

… oder aber einen selbst gewählten, für den Normalbürger oft nicht nachvollziehbaren Umgang mit ihrer Umgebung pflegen. Hahn ging in einen Obdachlosentreff mit besagtem Namen Kaffee Bankrott in Prenzlauer Berg in Berlin und sprach dort verweilende, vor allem junge, Leute direkt an, um sich nach ihrer Lebenssituation und ihrem Selbstbild zu erkundigen, sich mit ihnen über ihr Dasein auszutauschen und ihre äußerlichen Lebensumstände, wenn sie einverstanden waren, ins Bild zu setzen. Der Fokus lag auf strassenfeger -Verkäufern, Nomaden der Städte, die zumeist in unsteten Verhältnissen leben, teilweise in Notunterkünften unterkommen, in den Tag hineinleben. Das Ziel des Projektes sollte es sein, diesen Menschen die Möglichkeit einer Äußerung in bildlicher Form zu eröffnen und die Öffentlichkeit später mit dieser Lebenswelt zu konfrontieren.
 

Foto Wolfram Hahn

 
Bei seiner Suche nach Kandidaten für sein Vorhaben realisierte Hahn bald, dass sich hinter den gängigen Klischees des Obdachlosen, des ‚Minderbemittelten‘ oder ‚Bedürftigen‘ oftmals sehr eigenwillige und einzigartige Charaktere offenbarten. Viele beschäftigen sich hingebungsvoll und durchaus versiert mit einem speziellen Interesse, sei es dem Musikmachen, dem Schreiben oder dem Computer. Andererseits haben viele von ihnen auch Probleme mit Drogen, Alkohol, den Behörden oder depressiven Phasen. Doch generell kann man bei diesen Menschen, welche unter das Label des sogenannten ‚Prekariats‘ fallen (das weitestgehend alle Randexistenzen der Gesellschaft diskreditierend brandmarkt), eine Fülle von unterschiedlichen Lebensentwürfen entdecken.

Was den meisten allerdings gemein ist: Sie alle haben ein gespaltenes Verhältnis zur Gesellschaft, zum ‚System‘. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Mal ist es die resolute Abkehr von einem Leben, welches nur mit ‚entfremdeter‘ Arbeit erfüllt zu sein scheint, mal ist es das Erleben von Sinnlosigkeit mit daraus folgender Agonie, mal ist es der Anspruch an die Gesellschaft, ein unverschuldetes In-der-Welt-Sein zu kompensieren. „Ich kann ja nichts dafür, dass ich hier bin. Dann sollen doch gefälligst auch die, die es sich leisten können, ein Stück von ihrem Kuchen abgeben…“ Dieses mündet zumeist in einer allgemeinen Kritik an der westlich-kapitalistischen Weltordnung, den ‚Bonzen‘, den ‚Bullen‘ und allen, die sich ihnen verständnislos, abfällig oder indifferent gegenüber zeigen. Erklärungen über die Wirkungsweise der Gesellschaft, der Verantwortung jedes Einzelnen in einer Solidargemeinschaft und individuellen Entfaltungsmöglichkeiten sind ihnen nur hohle Phrasen. Zurück bleiben sowohl Menschen, die sich abkapseln wollen, sich rigoros Sozialisationsversuchen verweigern und sich aufgrund ihrer Lebenseinstellung in ihrer eigenen Welt einrichten, als auch solche, die es nicht schaffen, den Standards der Gesellschaft gerecht zu werden. Alle führen sie ihr Leben in der Regel abseits der vom Normalbürger wahrgenommenen Sphäre gesellschaftlicher Praxis. Hahns Porträts wollen uns daher einen Einblick in das ganz private Umfeld dieser Menschen in ihre private Umgebung, ihre persönliche Lebenswelt gewähren, um durch die Konfrontation mit deren Realität die Gründe der Entfremdung wenn nicht verständlicher, so doch zumindest annähernd wahrnehmbar zu machen.
 

Foto Wolfram Hahn

 
Hahn hat sich nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch eingehend mit der Problematik dieser Lebensweisen auseinandergesetzt und im Laufe des Projekts viele Anregungen zum Thema in seine Arbeit einfließen lassen. Neben der wesentlichen Auseinandersetzung mit den Porträtierten hatten vor allem die Diskurse am Frankfurter Institut für Sozialforschung um Begriffe wie ‚Entfremdung‘ oder ‚Verdinglichung‘ oder über den ‚Kampf um Anerkennung‘ einen gewissen Einfluss auf die Herangehensweise an sein Vorhaben und seinen Blick auf die Hauptdarsteller seiner Bilder. Besonders Rahel Jaeggis Neuinterpretation des Marxschen Begriffs der ‚Entfremdung‘ hinterließ bei Hahn einen starken Eindruck. Für Jaeggi bedeutet dieser Begriff Indifferenz und Entzweiung, Machtlosigkeit und Beziehungslosigkeit gegenüber sich selbst und einer als gleichgültig und fremd erfahrenen Welt. Sie macht den Begriff der ‚Entfremdung‘ fruchtbar, um eine kollektive und individuelle Befindlichkeit zu beschreiben, nach der wir uns nicht als autonom gestaltende Subjekte unserer Existenz erfahren, sondern der Dynamik uns bestimmender Zwangsverhältnisse ausgeliefert sind.

Ausgehend von dieser Interpretation spürte Wolfram Hahn dem Phänomen nach, suchte nach den ‚Entfremdeten‘ – soweit dies auf die Porträtierten zutreffen mag – und hörte sich deren Version ihrer gegenwärtigen sozialen Situation an, um sich sein eigenes Bild zu machen. Dies war weder immer einfach noch konfliktfrei. In der Auseinandersetzung mit den Lebenssituationen der oftmals noch sehr jungen Teilnehmer stieß er an den Rand seiner Fähigkeit, den Abstand zu wahren und sich deren teils schwer zu verkraftende Schicksale nicht zur psychischen Belastung werden zu lassen. Und auch bei den Porträtierten waren Zweifel und teilweise Ablehnung vorprogrammiert: Nicht jeder wollte seine Situation so direkt offenlegen, wollte sein private Not so unverhüllt zeigen, geschweige denn sich für den Zweck einer Ausstellung in der Öffentlichkeit präsentieren. Doch auch trotz mannigfaltiger Schwierigkeiten zeitigte das gesamte Projekt sehr gute Ergebnisse, nicht nur auf bildnerischer, sondern auch auf inhaltlicher und vor allem menschlicher Ebene. Der Austausch regte auf beiden Seiten zum Nachdenken an und sorgte dadurch für eine weitaus differenziertere Wahrnehmung des jeweiligen Gegenübers. Dass daraus schließlich die hier vorliegenden Porträts resultierten, liegt im gemeinsam entstandenen Vertrauen der Beteiligten in die Wirkungsmacht der Bilder, auf denen der Prozess der Annäherung seine Spuren hinterlassen hat.
 

Foto Wolfram Hahn Foto Wolfram Hahn

 
Die jeweiligen individuellen Gründe für einen Rückzug der Porträtierten aus der Gesellschaft lassen sich aus Hahns Photographien zwar nicht direkt herauslesen, jedoch kann man auf seinen Bildern verschiedene Einflussfaktoren ausmachen, die das Leben der Protagonisten auf verschiedenste Weise bestimmen und es ihnen erschweren oder widerstrebenswert erscheinen lassen, ihren Platz im gesellschaftlichen Leben einzunehmen. Zudem wird der Betrachter dieser Bilder tendenziell in der Lage versetzt, zu erkennen, was hinter dem Klischee des Kiffers, des Süchtigen, des Gebrochenen, des Trotzigen verborgen ist, welches eigentliche Potential in den Protagonisten steckt, aber aufgrund der Wechselwirkungen der Umstände nicht zum Vorschein gebracht werden oder wegen des persönlichen Charakters nicht zur Geltung kommen kann. Hahn erzeugt dadurch eine Stimmung, die zu einer Reflektion der eigenen Positionierung in der Gesellschaft anregt und bei welcher der Blick des Betrachters auf diesen selbst zurückfällt:

Was gibt im Endeffekt den Ausschlag, ob man sich in der Gesellschaft wohlfühlt und sich integrieren kann oder will? Was macht einen stark genug, den Gefahren von Trägheit, Mutlosigkeit, Angst, Antriebslosigkeit, usw. zu entsagen? Was bedarf es, damit die Gesellschaft für alle ein Hort wird, in dem sie sich wohlfühlen und mit dem sie sich identifizieren können? Was muss die Gesellschaft bereitstellen, damit sich jeder darin verwirklichen kann? Was muss jedoch auch jeder selbst mitbringen, damit sie funktionieren kann?

Das heißt schlussendlich: Was macht das Leben in der Gesellschaft aus bzw. was eigentlich bedeutet Leben?

(Daniel Klemm)
 
 
Der ‚strassenfeger‘ ist eine in Berlin erscheinende Straßenzeitschrift, die zumeist an belebten Orten, wie Fußgängerzonen oder im Bereich der U-Bahn von Menschen aller Coleur verkauft wird. Ein Teil des Erlöses geht an die Verkäufer, der andere an die Zeitschrift.
Begriffe wie ‚Humankapital‘ ‚minderbemittelt‘, ‚bedürftig‘, ‚Prekariat‘, etc. sind im gesamten Text in Anführungszeichen gesetzt, um sie als unzureichende oder abwertende Versuche zur Benennung gesellschaftlicher Phänomene zu kennzeichnen.
Jaeggi, Rahel: Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems; Frankfurt/Main, 2005
Honneth, Axel: Verdinglichung. EIne anerkennungstheoretische Studie; Frankfurt/Main, 2005
Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte; Frankfurt/Main, 1994

 
 
Ausstellung
Kaffee Bankrott
19. Dezember 2008 – 15. Januar 2009
U-Bhf Rosenthaler Platz, U8, Berlin-Mitte