Ausgestattet mit einem luziden Blick für die Tragödien des Großstadtlebens reiste Dirk Reinartz nach New York. Resultat: das faszinierende Fotobuch „New York 1974“

Vor kurzem war im Berliner Martin-Gropius-Bau eine Ausstellung zu sehen, die einen der wichtigsten deutschen Fotografie-Lehrer vorstellte: „Stille – Dirk Reinartz und Schüler“ hieß die Schau, ein gut gewählter Titel, der das Werk des ehemaligen Professors für Fotografie an der Kieler Muthesius-Kunsthochschule vollendet auf den Punkt bringt.

Stille ist in den Bildern des im Jahr 2004 im Alter von nur 56 Jahren verstorbenen Dirk Reinartz allgegenwärtig. Sein fotografischer Zugriff ist bedächtig. Nicht die fotografische Inszenierung soll sprechen, nein, das Sujet soll aus sich selbst heraus wirken. Wenn nicht auf den ersten, dann doch auf den zweiten oder dritten Blick.

Foto: Dirk Reinartz

So ist es auch mit den Fotografien, die im Herbst des Jahres 1974 in New York entstanden sind und nun in einem faszinierenden Fotobuch veröffentlicht wurden. Dirk Reinartz – 1947 in Aachen geboren, der bei Otto Steinert an der Essener Folkwang-Schule ausgebildet wurde und als freier Fotograf für den „Stern“, „Life“, „Spiegel“, „SZ-Magazin“ und das „Zeit-Magazin“ arbeitete – reiste privat nach New York, ausgestattet mit einem luziden Blick für die Tragödien des Großstadtlebens.

Foto: Dirk Reinartz


Oft sind es vereinzelte Menschen, die uns auf diesen Bilder begegnen. In den Großstadtschluchten Manhattans. Am Straßenrand: Fotografie im öffentlichen Raum, street photography mit einem ganz eigenen Duktus, die sich dennoch auf die große Tradition beruft, die mit Atgets Paris-Fotografien beginnt und mit Robert Frank, Lee Friedlander oder William Klein ihren Höhepunkt findet.

Doch es sind nicht nur persönliche Tragödien, die Reinartz in poetische, einmalige Schwarzweißfotografien gießt. Die Einsamkeit im Alter, die Armut des Blinden, der Bleistifte verkauft (jener könnte auch eine Figur von George Grosz sein), der Einsame in der Telefonzelle, der melancholische Geschäftsmann vor der Steinwand, die Verlorenheit der Menschen in der Stadt, all das verweist auf Größeres, ist eingebettet in einen gesellschaftlichen Rahmen.

Foto: Dirk Reinartz

Eine depressive Stimmung lastet auf Reinartz’ New York, eine Stimmung, die er vermutlich so schätzte wie die Tristesse, die er in seinen norddeutschen Motiven fand: Es ist die Zeit hoher Arbeitslosigkeit, die Zeit der ersten Ölkrise. Die Apokalypse des Vietnamkriegs ist gerade beendet. Und doch ist es stets der einzelne Mensch, dem sich Reinartz zuwendet: „Der Einzelne war mein Thema“, hat er einmal gesagt, der so früh Verstorbene, über den Ulf Erdmann-Ziegler in einem berührenden Nachruf geschrieben hat: „Er leuchtete aus sich heraus, ohne Mission.“

(Marc Peschke)

Karin Reinartz (Hrsg.)
New York 1974. Fotografien Dirk Reinartz (bei amazon.de)
106 Seiten. 53 Schwarzweiß-Abbildungen. 20,8 x 29,4 cm
Leineneinband
Steidl 2007
ISBN 987-3-86521-526-0
42 Euro

Nachtrag (21.11.2007; 18:25 Uhr): Bibliographische Angaben und Titelseitenabbildung korrigiert.