Mit Steven K. Lee, seit vergangenen Herbst Vorstandsvorsitzender bei Leica, weht allem Anschein nach ein frischer Wind bei Leica – manche machen gar einen ausgewachsenen Sturm aus:

Anlass, ein wenig nachzudenken und nachzuhaken, waren Gerüchte und Gespräche während der Rencontres d‘Arles. So war dort die Leica World nicht zu finden, obwohl sie nicht nur überfällig war (sie sollte im Mai 2007 erscheinen), sondern unseren Informationen nach seit über zwei Monaten fertig gedruckt auf Lager liegt; ihre Auslieferung wurde kurzfristig gestoppt. Nach Aussage diverser Magnum-Fotografen in Arles (die sich gleichfalls wunderten), soll ihnen aber die Zusage gemacht worden sein, dass die Leica World komme.

Derzeit scheint die offizielle Begründung die zu sein: die Leica World Aussendung wartet noch immer auf das Vorstandsschreiben, welches der neue Vorstand gerne beigefügt haben möchte. Wir hoffen, dass wir im Laufe der kommenden 2 Wochen verschicken können. Wir bitten Sie noch um ein wenig Geduld. (Zitat aus dem Leica-Forum, Nachricht vom 11.7.2007)

Auf unsere Anfrage teilte Leica mit: Nach jahrelanger erfolgreicher Arbeit wird das Kulturprojekt „Leica World“ im Rahmen der weiteren strategischen Neuausrichtung der Leica Camera AG intensiv überprüft.

Leica prüft damit eine Publikation, der just im Juni 2007 die Auszeichnung „Best of Corporate Publishing 2007“ verliehen wurde. Der CP-Dienstleister independent Medien-Design, München, gewann mit der Leica World Gold in der Kategorie B-to-C (Business to Consumer). Und das war nicht die erste Auszeichnung.

Nun könnte man das Ganze als Sturm im Wasserglas ansehen und als Marginalie abtun. Auffällig ist jedoch die lange Zeit der Entscheidungsfindung: Braucht ein Vorstandschef wirklich zwei Monate, ein Anschreiben zu verfassen?

Nach unserem Kenntnisstand ist es so, dass im Augenblick eine nicht gelöste Pattsituation bei Leica besteht: Einerseits wurde aus dem obersten Management heraus die Zusage – siehe oben – gegeben, Leica World werde ausgeliefert. Andererseits wurde – ebenfalls von ganz oben – die Einstellung der Leica World beschlossen. Ausgabe 1/2007 sollte gar nicht mehr erscheinen (durch ein Missverständnis wurde sie doch noch gedruckt). Das Problem in der Führungsetage: Wie löst man die Pattsituation auf, ohne das Gesicht zu verlieren?

Der neue Vorstandsvorsitzende Steven K. Lee – ein Mann, durchaus mit Visionen (dazu gleich noch mehr) – mit amerikanischem Führungsverständnis (er war vorher bei IBM und Best Buy) trifft auf deutsche Arbeits- und Denkstrukturen. Man kolportiert, dass (fristlos) entlassen wird, wer ihm nicht rückhaltlos folgt. (Dass das, nebenbei, so einfach nicht geht, dafür sorgt das deutsche Arbeitsrecht – man klagt dagegen.)

Nach unseren Informationen wurden in den vergangenen Wochen mindestens sechs Mitarbeiter aus dem mittleren Management entlassen, zum Teil wurde ihnen fristlos, zum Teil fristgerecht zum Jahresende, gekündigt. Das betrifft leitende Positionen in Forschung, Produktion, Optik und Kommunikation.

Die einen meinen nun, Lee dulde keine Widerworte und reagiere entsprechend harsch und persönlich. Man kann es aber auch so sehen: Nach nunmehr gut einem halben Jahr weiß Lee, wo die Bremsklötze festsitzen, und die löst er jetzt. Wir glauben nach diversen vertraulichen Gesprächen, dass beides zutrifft: Lee will sich nicht bremsen lassen, wertet aber sehr schnell auch Kritik als Angriff auf seine Person. Man bedenke, dass er aus Amerika kommt, einem Land, das der unkritischen Gefolgschaft (in Politik, Religion, Firma) doch deutlich stärker zuneigt als Deutschland, das nach 1000jähriger-Reichserfahrung eine eher kritische Bevölkerung großgezogen hat.

Leica auf unsere Anfrage („Es wird von Entlassungen bei Leica gemunkelt; bis in Abteilungsleiterkreise hinein“): Die Leica Camera AG befindet sich in einer Phase der strategischen Neuausrichtung, die alle Abteilungen des Unternehmens betrifft. Hier hat es vereinzelte Anpassungen gegeben. Gleichzeitig gab es in den vergangenen Monaten aber auch zahlreiche Neueinstellungen und wir sind nach wie vor immer noch auf der Suche nach kompetenten Mitarbeitern. Derzeit haben wir rund 20 Stellenangebote auf unserer Homepage ausgeschrieben. Um unsere hoch gesteckten unternehmerischen Ziele zu erreichen, sehen wir qualifizierte Mitarbeiter als wichtigstes Kapital und Garant des Erfolgs.

Was uns nun – nach vielen Worten – endlich zu der entscheidenden Frage führt:

Wohin steuert Leica bzw. was will Steven K. Lee?

Leica dazu:

„Sind das die Zeichen einer Neuausrichtung bei Leica?“
Das Unternehmen befindet sich – wie bereits oben erwähnt – in einer Phase der strategischen Neuausrichtung.

„Wohin geht die Entwicklung?“
Erste Erfolge sind sichtbar, jedoch möchten wir darauf hinweisen, dass der Sanierungs- und Restrukturierungsprozess der Leica Camera AG und nachgeordneter Unternehmen noch nicht abgeschlossen ist und dieser Prozess naturgemäß noch Risiken beinhaltet.

Deutlicher hat sich Steven K. Lee in einem Interview in LFI 4/07 geäußert, aus dem hier Kernaussagen zitiert seien:

Steven K. Lee auf die Frage, was ihn bei seinem Amtsantritt besonders überrascht habe: Die Tatsache, dass das vorherige Management, so sehr es das auch versucht haben mag, nie wirklich zum Kern der Probleme vorgedrungen ist. Dann die Erkenntnis, dass man einen langen Atem brauchen wird, um den Karren wieder flott zu bekommen. Und schließlich die Erfahrung, wie ungemein engagiert die Leica-Mitarbeiter sind, wie sehr es ihnen am Herzen liegt, dass Leica wieder auf die Beine kommt, und wie stark sie dem Unternehmen verbunden sind.

Weitere Zitate:

Haben wir auch die richtigen Produktideen? Doch, die haben wir, auch wenn ich das Team mitunter zu mehr Risikofreude anstacheln muss, denn ich finde, es denkt oft in sehr konservativen Kategorien, wenn es darum geht, welche Kundensegmente man ansprechen könnte.

Die R ist eine Kamera mit manuellem Fokus – hier müssen wir etwas tun. Sie ist eine voluminöse Kamera mit einem zusätzlichen Anflansch-Rückteil für den Digitalbetrieb. Auch daran müssen wir arbeiten.

Es geht überhaupt nicht darum, die gegenwärtige Produktlinie zu verändern. Die wichtigen Fragen sind eher diese: Bewegen wir uns auf dem richtigen Markt? Erreichen wir alle für uns relevanten Märkte und Kunden? Erwächst so ein positives Geschäftsmodell für uns?

Die Leute sagten „Wie kann es sein, dass es nur zwei neue Objektive zusammen mit der Einführung der M8 gibt?“ – hier müssen wir etwas tun. Das können wir an Ort und Stelle machen, denn es geht um Optik und Mechanik, dies beherrschen wir par excellence, und unsere Kunden sehen dies ebenso. Wir können gleich morgen anfangen. Mehr Kameras, mehr Gehäuse – Sie müssen nur ein wenig warten, solche Prozesse brauchen nun einmal ihre Zeit.

Es wird mehr M-Modelle geben, eine größere Bandbreite von Produkten; wir werden das Sortiment der Objektive erweitern und hier außerdem eine größere Preisdifferenzierung einführen.

Ich glaube nicht, dass Leica ein natürliches Recht auf irgendetwas hat, Leica muss sich den Erfolg verdienen. So ist es überall im Geschäftsleben. … ich erwarte nicht, dass die Kunden schon jubeln, nur weil sie den roten Punkt auf dem Gehäuse sehen. Eine Leica muss eine besondere Erfahrung vermitteln. Dadurch, wie sie funktioniert und wie der Benutzer mit ihr umgehen kann, und sie muss überragende Ergebnisse liefern – sonst ist es keine Leica.

Das komplette – elf Seiten umfassende und sehr lesenswerte – Interview ist in LFI 4/07 erschienen. Das Heft kann nachbestellt werden.

Und das Fazit?

Im Augenblick deuten alle Indizien darauf hin, dass sich mit Leica-Besitzer und Leica-Chef zwei zusammengefunden haben, denen Leica wirklich am Herzen liegt. Andreas Kaufmann (besitzt mit seinen beiden Brüdern die Leica-Mehrheit) könnte viel schneller kurzfristig viel mehr Geld machen, wenn Leica nach Heuschreckenmanier zerschlagen und versilbert würde – allein der Name dürfte erheblichen Wert haben. Und Steven K. Lee, der bei jeder Gelegenheit seine Leica-Begeisterung mitteilt („Ich liebe meine Leicaflex, ich bin ein totaler R-Fan, einige der besten Bilder, die ich je gemacht habe, entstanden mit dem R-System“), hat in dem oben zitierten Interview durchaus Perspektiven aufgezeigt. Dass er ein strategischer Kopf mit hervorragendem Verständnis für Fototechnik wie -märkte ist, wird ihm selbst von einem attestiert, den er nicht mehr in seiner Führungsmannschaft haben möchte.

Bleibt zu hoffen, dass sich das Folgsamkeitsverständnis der Kulturen annähert.

(thoMas)