Doch ein „neuer Schindler“ war Ernst Leitz wohl auch im kleinen Maßstab nicht (manche Presse will von 40 Geretteten wissen) – denn Belege bleiben die Quellen bislang schuldig:

Wetzlar. Seit den 80er Jahren verbreitet sich die Geschichte über Fotozeitschriften und Internetforen, dass der Wetzlarer Unternehmer Ernst Leitz (1871-1956) während des Dritten Reichs hunderte Juden aus Deutschland geschmuggelt habe. Über eine 34-seitige Broschüre des bis dato unbekannten Autors Frank Smith aus dem Jahre 2002 hat sie schließlich den Weg in angesehene Zeitungen gefunden: Der Titel: „The Greatest Invention of the Leitz Family: The Leica Freedom Train (die größte Erfindung der Familie Leitz: der Leica Freiheitszug“). Handfeste Beweise für die systematische Fluchthilfe für Juden fehlen, räumt auch der Autor ein.

Foto von Ernst Leitz junior

Die Fakten: Belegt und vielfach zitiert ist, dass Ernst Leitz auch nach der Machtergreifung durch die Nazis 1933 einen jüdischen Lehrling eingestellt hat und ihm und seinem Vater schließlich die Ausreise erleichtert hat. Wegen eines Empfehlungsschreibens für einen jüdischen Geschäftsfreund wurde 1935 der Leica-Verkaufsleiter Ernst Türk kurzzeitig inhaftiert. Ernst Leitz erwirkte seine Haftentlassung und nahm ihn bei vollen Bezügen aus der Schusslinie. Briefe des Wetzlarer Getreidehändlers Nathan Rosenthal und des Frankfurter Geschäftsmannes Henry Enfield danken nach dem Krieg für diese Unterstützung, ohne die eine Ausreise in die USA nicht möglich gewesen wäre. Die Suche nach geretteten Juden blieb vergeblich.

Wahrscheinlich ist auch, dass die Auslandsbüros der Firma Anlaufpunkt für deutsche Emigranten auf der Suche nach Arbeit und neuen Kontakten waren. Die untadelige Haltung des Unternehmers und überzeugten Demokraten Ernst Leitz , der erst spät und unter massivem Druck in die NSDAP eingetreten war, wurde von der Spruchkammer im Entnazifizierungsverfahren 1947 bestätigt. Leitz hatte mehrere Personen, denen er bei der Ausreise behilflich gewesen war, für die Kammer aufgelistet. Unter ihnen auch Rosenthal. Bis 1938, vereinzelt auch bis 1942, war die Ausreise für Juden, die Geld und Kontakte im Ausland hatten, durchaus möglich.

Die andere Geschichte vom „Freedom Train“ hat ihren Ursprung beim Herausgeber von „Popular Photographie“, Norman Lipton, der 1938 bis 1940 bei Leitz in New York gearbeitet hat. Er hatte sich in eine seiner Ausgaben an jüdische Leica-Lehrlinge erinnert, die ausgebildet worden seien, um schließlich nach New-York ausreisen zu können. Woche für Woche seien 30 bis 40 Flüchtlinge angekommen, die von Leica-Mitarbeitern in Hotels und Jobs untergebracht worden seien. Lipton – zitiert bei Smith – nennt den Leica-Verkäufer Dagwood oder Dagelbert Horn aus Wetzlar oder Wiesbaden und Julius Huisgen, der bei Leica eingestellt worden sei, um mit seiner jüdischen Frau ausreisen zu können.

1987 hatte der Autor Brad Gilbert, so schreibt Robert Carter 2004 im Internetjournal der „Kanadischen Gesellschaft für die Geschichte der Fotografie “, die Geschichte bereits auf einer halben Seite in diversen Fotozeitschriften veröffentlicht. 1997 sei die Story wiederum in einem Buch über jüdische Fotografen abgedruckt gewesen. Mehrere Aufrufe in diversen Fotozeitschriften, die jüdische Leica-Flüchtlinge aufrufen, sich zu melden, seien vergeblich geblieben.

2002 erzählt Frank Smith, der Rabbi einer kleinen Synagoge in London, der auch als freier Fotograf gearbeitet hat, die Geschichte. Er zitiert Lipton, die bekannten Briefe aus der Spruchkammerakte und schließt auf eine organisierte Fluchthilfe durch Leica. Er erfindet die Überschrift: „The Leica-Freedom-Train“. Sie soll an den gleichnamigen „Freiheitszug“ erinnern, auf dem während des Amerikanischen Bürgerkriegs Sklaven von Fluchthelfern in die Freiheit transportiert wurden.

Lipton selbst, so Smith, habe angegeben 1967 auf Bitten des Leitz-Sohnes Günther Leitz auf einen Abdruck der Geschichte im „Readers Digest“ verzichtet zu haben. Günther Leitz starb 1969, Lipton ist 2005 hochbetagt gestorben. Zeugen für das Gespräch gibt es nicht.

Den „Leica-Freiheitszug“ nehmen zunächst kleinere amerikanische Internetjournale wie das „Journal Sentinel“ aus Milwaukee, wo 2002 bereits von hunderten Juden geschrieben wird, die durch die Fluchtorganisation von Leitz gerettet worden seien. Mit einer Veröffentlichung in der „Financial Times“ Anfang Februar 2007 gewinnt der Zug aber erst an Fahrt, nicht zuletzt deshalb, weil Leitz mit Oskar Schindler verglichen wird, der Ende 1944 rund 800 Juden vor der sicheren Ermordung gerettet hatte.

„Die Welt“ titelt daraufhin: „Der andere Schindler“ und – nach einem Brecht-Stück – „Der gute Mensch von Wetzlar“. In dem Artikel heißt es über den Autor Frank Smith: „Vielmehr strahlt aus ihm das innere Vergnügen einer großen Lebensweisheit geborgen aus jüdisch-christlicher Wurzel“. Weitere Recherchen werden nicht angestellt.

Das Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ bringt den Artikel aus der „Financial Times“ deutsch übersetzt und erfindet dazu die Überschrift „Leitz’ Liste“ – nach dem berühmten Film. Die „Bild“-Zeitung schreibt wiederum vom Schwesternblatt „Die Welt“ ab und spricht von ganzen Konvois herausgeschmuggelter Juden. Die Berlin-Reporterin des „Guardian“ überträgt die Geschichte aus Deutschland wiederum nach England.

In der Internet-Enzyklopädie „Wikipedia“ ist der Leica Freedom Train mittlerweile ein fester Begriff. Dort geht es um hunderte geretteter Juden. Der „Leica- Freedom-Train“ nimmt Fahrt auf.

Einzige nachweisbare Quelle sind stets Frank Smith und die Dankesbriefe, die Leitz 1947 der Spruchkammer präsentiert hat. Inzwischen hat er posthum eine Anerkennung der angesehenen jüdischen Organisation „Anti Defamation League“ verliehen bekommen.

Und Frank Smith, der Autor? In der „Süddeutschen Zeitung“, die von 41 geretteten Juden schreibt, ohne eine Quelle anzugeben, bedauert er, dass es keine handfesten Beweise für die Aussagen von Lipton gibt. In einer seiner ersten Veröffentlichungen zum Thema heißt es in einer Fußnote, dass sich die Frage „wie viele Juden hat Leitz gerettet?“ zurzeit nicht beantworten lasse. Noch fehlen die Beweise.

Leitz-Enkel Knut Leitz, der vor kurzem zum 50. Todestag seines Großvaters den biografischen Abriss „Ernst Leitz „ Wegbereiter der Leica“ vorgelegt hat, hat für März Ergebnisse weiterer Recherchen angekündigt, die in einer Veröffentlichung des Wetzlarer Geschichtsvereins präsentiert werden sollen.

(Alois Kösters)

Erschienen in der Wetzlarer Neue Zeitung vom 20.02.07. Mit freundlicher Genehmigung.

Siehe auch:
New life through a lens (Financial Times; 2.2.2007)
Leitz’ Liste (Süddeutsche Zeitung Magazin; 15.2.2007)
So rettete der Leica-Chef 41 Juden (Bild online; 16.2.2007)
Der Leica-Schindler (Stern online; 19.2.2007)
Ernst Leitz junior (Wikipedia; Rettung jüdischer Bürger in der Zeit des Nationalsozialismus – der SZ-Artikel wird hier bereits als Faktum zugrunde gelegt)
 

Nachtrag (27.4.2011): Nachdem amateur photographer heute weiter an der Legende bastelt, hier noch ein Nachtrag. Karsten Porezag kommt in seinem Buch „Ernst Leitz aus Wetzlar und die Juden – Mythos und Fakten“, erschienen 2009, zu folgender Einschätzung:

„… warfen zwangsläufig die Frage auf, welche Belege es zum Leica Freedom Train wirklich gibt. Das Ergebnis meiner sechsjährigen Nachforschungen sei hier vorweggenommen: nur wenige. Es handelt sich vielmehr um eine „Rettungslegende“, die allerdings aus einem wahren Ansatz heraus entstand. Dass solche „Meldungen“ auch 65 Jahre nach dem Holocaust von Zeitschriften wie „Financial Times Deutschland“, „Stern“, „Die Welt“, „Süddeutsche Zeitung“ und anderen Blättern ohne jede fundierte Recherche übernommen wurden, muss nachdenklich stimmen. … Dabei sollte immer im Auge behalten werden, dass die couragierten Leitz’schen Hilfsleistungen für verfolgte Juden über jeden Zweifel erhaben sind. … … Ernst Leitz hat bis zum Frühsommer 1939, als die Juden aus Deutschland emigrieren mussten (aus heutiger Sicht: noch emigrieren konnten) in 21 Fällen insgesamt 45 Juden im Zuge ihrer Emigration unterstützt.“

Siehe auch:
Karsten Porezag
Ernst Leitz aus Wetzlar und die Juden – Mythos und Fakten (bei amazon.de)
Zur Emigration deutscher Juden 1933-1941
Broschiert, 184 Seiten
Metropol: 1. Aufl. 2009
ISBN-13: 978-3940938237
19,- Euro